Nemo

Ach wie gut, dass niemand…

Alberigo Tuccillo Kunst und Kultur, Sprache Schreibe einen Kommentar

Meine älteste Nichte heißt Manon, weil ihre Mutter, meine Schwester, ebenso wie ich Puccini verehrt und dem Kind den Namen der Protagonistin der Oper ‹Manon Lescaut› geben wollte. Obwohl ich Manons Taufpate bin, wurde ich zur Namensfindung nicht beigezogen. Wäre ich jedoch beigezogen worden, wäre meine Zustimmung sicher gewesen. Schließlich sind wir alle glücklich darüber, dass die wunderbare Frau nicht Turandot, Boheme, Tosca oder sogar Butterly heißt.

Manons Katze heißt Nemo, nach dem Trickfilm-Helden der Unterwasserwelt, dem sechs Jahre alten, bunt-schillernden Clownfisch, der mit seinem allein erziehenden Vater Marlin in einem Korallenriff vor der australischen Küste lebt, bis er an seinem ersten Schultag von Tauchern entführt wird und in einem Aquarium in Sydney landet.

Die Trickfilm-Figur Nemo hat ihren Namen wohl wegen Kapitän Nemo, dem Kommandanten des U-Bootes ‹Nautilus› aus den Romanen ‹20’000 Meilen unter dem Meer› und ‹Die geheimnisvolle Inselvon Jules Verne bekommen. Bei Verne liebt der Inder Nemo die westliche Wissenschaft und Kultur, behält aber seine indische Identität. Er wird zum Studium und zur Ausbildung nach England geschickt, um später gegen die Briten zu kämpfen.

Der lustige Clownfisch und Kapitän Nemo sind in der Literatur nicht die einzigen Figuren, die von der Autorin oder vom Autor diesen Namen bekommen haben. Die beliebte Namensgebung für literarische Helden geht auf die lateinische Übersetzung der Odyssee zurück. Das lateinische Wort ‹nemo› bedeutet ‹niemand›. — Als im homereschen Epos die auf dem Meer herumirrenden Griechen auf die Insel des Kyklopen (einäugiger Riese) Polyphem geraten und sich in dessen Höhle hungrig über seine Vorräte hermachen, werden sie vom heimkehrenden Riesen überrascht, der nun den Eingang versperrt und sie an der Flucht hindert, weil er sie fressen möchte. Die Menschen sind für den Riesen jedoch zu klein, als dass dieser sie fangen könnte, denn sie können sich in natürlichen Nischen und Felsspalten verstecken und da Schutz finden. Wütend brüllt Polyphem: «Wer ist euer Anführer?» Odysseus meldet sich: «Ich bin’s.» «Und wie heißt du, Grieche?», fragt Polyphem. «Mihi nomen est Nemo (mein Name ist Niemand)!», sagt Odysseus auf Lateinisch. (Auf den griechischen Wortlaut komme ich gleich.) — Odysseus bittet jetzt den Kyklopen, sie noch eine Weile am Leben zu lassen und dafür vom Wein zu kosten, den die Griechen in einem Schlauch auf ihrem Schiff mitführen. Polyphem willigt ein. Nun ist aber der Wein der Griechen ein Konzentrat, das ‹tausendmal mit Wasser verdünnt tausendmal stärker ist als der stärkste Wein›! (In Arithmetik wäre Homer selbstverständlich bei jeder Aufnahmeprüfung durchgefallen, aber spannend schreiben konnte er!) Polyphem trinkt und schläft also bald sturzbesoffen ein. Die Griechen schleichen sich aus ihren Verstecken, nehmen einen brennenden Balken aus der Feuerstelle des Riesen, stechen damit dem Schlafenden das Auge aus und fliehen. Der nunmehr blinde Polyphem torkelt aus der Höhle und brüllt lauter als ein Orkan über das Meer: «Kyklopen! Brüder! Eilt mir zu Hilfe! Man hat mich geblendet!» «Wer hat dich geblendet, Polyphem?», rufen die Brüder von den Nachbarinseln des Archipels ebenso laut zurück. «Niemand war’s! Niemand hat mich geblendet!» «Du bist ja sternhagelvoll! Leg dich wieder schlafen und lass uns in Ruhe!»

Reizvoll ist freilich die Geschichte auch auf Lateinisch, auf Deutsch, Englisch und in jeder Sprache. Aber gegenüber dem griechischen Original geht doch in jeder Übersetzung ein köstliches Wortspiel verloren: Das griechische Wort für ‹Niemand› und für ‹Nemo› ist nämlich ‹οὐδείς› [oudeís], was ganz ähnlich klingt wie ‹Ὀδυσσεύς› [odysse͜ús]. Es ist also im griechischen Text gar nicht eindeutig klar, dass Odysseus den Kyklopen wirklich hereinlegt! Vielleicht hört der einäugige einfältige Muskelprotz einfach nicht richtig zu und schaufelt sich sein eigenes Grab.

‹Mein Name ist Niemand› (Il mio nome è Nessuno) ist auch ein parodistischer Italowestern von Sergio Leone, eine italienisch-deutsch-französische Koproduktion aus dem Jahr 1973 mit Terence Hill in der Titelrolle und mit Musik von Ennio Morricone.

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