Analyse eines unterschätzten literarischen Textes

Alberigo Tuccillo Literatur, Musik, Sprache

Bruder Jakob, Bruder Jakob,
Schläfst du noch? Schläfst du noch?
Hörst du nicht die Glocken?
Hörst du nicht die Glocken?
Ding dang dong, ding dang dong.

Bruder Jakob schläft also noch, obwohl die Glocken schon läuten. Das Glockengeläut bedeutet folglich — dieser Schluss drängt sich auf —, dass er längst nicht mehr schlafen, sondern seiner Pflicht nachgehen sollte. Um welche Pflicht könnte es sich aber dabei handeln? Was könnte der arme Bruder Jakob im Begriff sein zu versäumen? Höchstwahrscheinlich das, wozu Mönche vornehmlich ausgebildet sind: beten, fasten, beichten, sühnen, frohlocken, sich kasteien, sich demütigen, Buße tun und Ähnliches. Um diese Zeit sollte Bruder Jakob hiernach in der Kapelle sein und reuigen Herzens Absolution für seine Sünden erflehen, während er noch in seligem Schlummer wähnt, dass es der Herr den Seinen im Schlafe gibt. — Vollkommen kann diese Interpretation allerdings doch nicht befriedigen. Die Frage bliebe ungeklärt: Wer ist es, der zu Bruder Jakob spricht, ihn weckt, ihn ermahnt? Ist es ein Zellennachbar, der selbst spät dran ist und auf einem Bein hüpfend, mit einer Sandale in der Hand, hastig die Tür zu Jakobs Zelle aufreißt, um den Bruder vor des Abtes Zorn zu bewahren? Ist es vielleicht der Abt selbst, der in der Kapelle beim Angeben der abzusingenden Choräle Jakobs Fehlen bemerkt, grimmig und mit wehender Kutte durchs Chorgestühl flattert und knurrt: «Jetzt reicht’s aber, Bruder Jakob!»?

In solchen Dilemmata ist es stets ratsam, auf den Urtext zurückzugreifen, denn auf Übersetzer — das gestehe ich, wenngleich widerwillig — ist wenig Verlass. Das französische Original (2014 konnte die Musikwissenschaftlerin Sylvie Boissou die Urheberschaft von Text und Musik des berühmten Kanons eindeutig Jean-Philippe Rameau zuschreiben) lautet wie folgt:

Frère Jacques, frère Jacques,
Dormez-vous? Dormez-vous?
Sonnez les matines! Sonnez les matines!
[…]

Und der Urtext beschert philologisch Versierten doch einige Überraschungen! Erstens: Da ist nichts von einer Schelte! Im Gegenteil: Höflich und respektvoll fragt jemand bloß: «Dormez-vous?» und man glaubt noch zu hören ‹pardonnez-moi, mon pieux frère, si jʼose vous réveiller.› Noch überraschender aber ist, dass Frère Jacques, im Gegensatz zu Bruder Jakob, gar keine Glocken hören kann, geschweige denn muss, denn genau das wird im französischen Text beklagt: Die Glocken läuten eben nicht zum Morgengebet, und folglich bittet man Jacques, dem weltlichen Tagesanbruch Einhalt zu gebieten und das Ganze in christlichere Bahnen zu lenken: ‹Je vous en supplie, sonnez les matines, sonnez les cloches, sʼil vous plaît.› — Frère Jacques ist also der Glöckner, und wenn der jetzt noch schläft, wird es auch das ganze Kloster noch tun.

Endgültige Klarheit schafft wie so oft das Italienische! Da hat man zwar dem Versfuß zuliebe Giacomo in Martino umbenannt, dafür nennt man seine Funktion innerhalb des Klosters explizit: ‹campanaro› (Glöckner)!

Fraʼ Martino, campanaro.
Dormi tu? Dormi tu?
Suona le campane, suona le campane.
[…]