Mythen und Märchen haben mich seit jeher stark interessiert. Ich meine hier vor allem die über Generationen mündlich überlieferten Sagen und Volksmärchen und — in der speziellen Betrachtungsweise, auf die ich mich in diesem Artikel konzentriere und beschränke — wesentlich weniger die Kunstmärchen, die Märchen aus der Feder bestimmter Autorinnen und Autoren. Ich habe selbstverständlich nichts gegen Apuleius, Giovanni Straparola, Hans Christian Andersen, E.T.A. Hoffmann, Oscar Wilde, Bettina Brentano von Arnim, Antoine de Saint-Exupéry, Gianni Rodari, Jane K. Rowling und unzählige mehr! Im Gegenteil: ich war seit jeher ein passionierter Leser ihrer Märchen! Ihre Texte sind jedoch fiktionale Texte von Autorinnen und Autoren und sind wie andere literarische Texte vor dem Hintergrund einer auktorialen Intention zu betrachten, unabhängig davon, wie klar, wie bewusst, wie konstruiert oder intuitiv, traumwandlerisch und unterbewusst diese Intention sein mag. Ganz anders verhält es sich bei den Mythen, den Sagen und den Volksmärchen wie die ‹Erzählungen aus tausend und einer Nacht›, die Märchensammlungen von Giambattista Basile, Charles Perrault, Jacob und Wilhelm Grimm, wie die englischen ‹Folktales›, die spanischen ‹Cuentos populares›, die russischen und die altnordischen Märchen. Da gibt es nämlich keine Urheberinnen und Urheber. Diese Texte sind irgendwann von jemandem aufgeschrieben worden und haben in dem Moment aufgehört, sich wie ein lebender Organismus zu verändern und zu entwickeln. Jetzt, da sie niedergeschrieben, redigiert, verlegt, gedruckt und jederzeit nachzulesen sind, verleiten sie dazu, sie nicht anders zu behandeln als die oben erwähnten Kunstmärchen oder irgendwelche anderen fiktionalen Texte. Bevor sie aber schriftlich fixiert und eingefroren wurden, bevor also ein ‹Originaltext› entstand, waren sie über viele Generationen mündlich überliefert worden. Die Geschichten, ihre Figuren, ihre Schauplätze, ihre Bilder, ihre Metaphern weilten zum Teil Jahre oder sogar Jahrzehnte im Gedächtnis derer, die sie einst erzählt bekommen hatten. Und wenn sie dann, um weitererzählt zu werden, aus dem Gedächtnis hervorgeholt wurden, hatten sie sich verändert. Was von einer Geschichte einen starken Eindruck hinterlassen und sich im Gedächtnis unauslöschlich eingeätzt hatte, wurde getreu wiedergegeben, was belanglos, unerheblich oder sogar störend empfunden wurde, hatte man vergessen. Für gewisse Handlungen musste man für sich selbst und für die Zuhörerinnen und Zuhörer Begründungen finden: Warum ist die Stiefmutter ungerecht zum Mädchen? Weil sie eigene Kinder hat, die sie bevorzugt, oder weil das Mädchen immer hübscher wird, mithin eine Konkurrenz für sie zu werden droht. Warum stirbt das Dornröschen nicht, als es sich mit der Spindel sticht? Ach ja, die zwölfte weise Frau hat nach dem Fluch der dreizehnten ihren Wunsch noch nicht ausgesprochen und kann mit ihrem Spruch die Verwünschung zwar nicht aufheben, aber abschwächen. — So wurde jeder und jede bei jedem Weitererzählen unbewusst zum Koautor und zur Koautorin. Und die Märchen entwickelten sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte auf ganz ähnliche Weise wie sich die Sprachen verändern: Wie jede Generation die Muttersprache zwar von der vorangehenden Generation erlernt, sich gegenüber der Elterngeneration jedoch in einer leicht veränderten Realität wiederfindet, sich darin dann selbständig bewegen muss und diese veränderte Umgebung, diese anderen Bedürfnisse, diese neuen Betrachtungsweisen, andere Gewohnheiten, neue Erkenntnisse und neue Irrtümer ausdrücken will und muss, die Sprache sich also unaufhaltsam geringfügig verändert, bis aus Althochdeutsch Neuhochdeutsch, aus Latein Spanisch, Französisch und Italienisch geworden sind, so veränderten sich auch die Märchen, bis aus ihnen völlig andre Geschichten wurden, die aber immer noch mit den alten Geschichten, aus denen sie entstanden und sich nach und nach entwickelt haben, einiges gemeinsam haben.
Ein Märchen, von dem wir das seltene Glück haben, es in verschiedenen Versionen zu besitzen, zwischen denen mehr als 1800 (!) Jahre liegen — wobei die Herausgeber der modernen Fassung die antike Version mit ziemlicher Sicherheit nicht kannten —, ist ‹Aschenputtel›.
Für den Fall, dass jemand, bevor wir zur antiken Version kommen, den Märchentext von 1812 der Gebrüder Grimm noch einmal lesen möchte, habe ich das ‹Hausmärchen› hier orthografisch (nach Rechtschreibung 2006) aktualisiert und mit zwei kleinen Worterklärungen versehen:
https://tuccillo.ch/aschenputtel/
Wer hingegen den Grimm-Text noch genug präsent hat, kann sich gleich mit der antiken Version befassen, von der ich hier nicht eine Übersetzung, sondern bloß eine Inhaltsangabe vorlege.
Strabon, ‹Στράβων› [Strábōn] (der Schielende), griechischer Geschichtsschreiber, der von 63 v. Chr. bis 23 n. Chr. in Griechenland und in Italien lebte, schrieb ungefähr 20 v. Chr. folgende Geschichte auf:
Rhodopis oder Rhodope, Griechisch ‹Ῥοδῶπις› [’Rhodōpis] (mit rosigen Wangen, Rotbäckchen), ist eine schöne thrakische, also aus dem östlichen Teil Griechenlands, dem Westen Bulgariens oder dem Süden Rumäniens stammende Sklavin. Sie arbeitet im Haushalt eines sehr reichen ägyptischen Herrn. Dieser Hausherr, der den lieben langen Tag nichts tut und die meiste Zeit mit Schlafen verbringt, ist zwar nicht unfreundlich zu ihr, kümmert sich aber auch nicht um sie und weiß nichts von der Missgunst und sogar Misshandlungen, die sie von den anderen Sklaven erdulden muss, die sich dauernd über ihren Status als Ausländerin und über ihre hellere Hautfarbe lustig machen und sie ständig schikanieren. Eines Tages, als ihr Herr zufällig gerade nicht schläft, sieht er ihr beim Tanzen zu und ist so beeindruckt, dass er ihr als Dank für das Vergnügen, das ihm der Tanz bereitet hat, ein Paar rotgoldene Pantoffeln schenkt, was die anderen Sklaven ärgert, wodurch ihre Gehässigkeiten und Tätlichkeiten gegenüber der jungen Frau noch zunehmen und schlimmer werden. — Eines Tages lädt der Pharao Amasis höchst persönlich das ägyptische Volk zu einem imposanten Fest in der Stadt Memphis ein. Die anderen Sklavinnen hindern Rhodopis daran, zum Fest zu gehen, sagen ihr, sie sei schmutzig, könne sich nicht benehmen, sich sprachlich nicht korrekt ausdrücken und befehlen ihr, eine lange Liste undankbarer Hausarbeiten zu erledigen. Während Rhodopis am Fluss ihre Wäsche wäscht und ihre schönen Pantoffeln, die sie geschenkt bekommen hat, in der Sonne trocknen lässt, taucht plötzlich Horus (ein Hauptgott in der frühen Mythologie des Alten Ägyptens) auf, stürzt sich in Gestalt eines Falken auf die Pantoffeln und stiehlt einen davon. Dann fliegt der Falke nach Memphis, wo er den Pantoffel in den Schoß des Pharaos fallen lässt.
Die lange (und lange Zeit vergebliche) Suche des Pharaos nach der Besitzerin des Pantoffels — dreimal werden junge Frauen, die sich als die Besitzerinnen ausgeben, dadurch als Betrügerinnen entlarvt, dass ihr Fuß nicht in den Schuh passt — führt ihn schließlich doch zum Haus von Rhodopis: Die Sklavin, die das königliche Schiff ankommen sieht, versucht vergeblich, sich zu verstecken, kann aber dem Blick des Pharaos nicht entgehen, der sie bittet, den Pantoffel anzuprobieren. Nachdem deutlich geworden ist, dass er ihr sitzt wie angegossen, zieht sie den anderen Pantoffel hervor, und der Pharao nimmt die Sklavin mit, um sie zu heiraten.