Keine Angst. Auch wenn es in sozialen Medien gang und gäbe ist und offenbar von vielen als legitim betrachtet wird, sich zu Themen zu äußern, von denen man, euphemistisch ausgedrückt, wenig versteht, werde ich mir nicht anmaßen, über Fußball zu schreiben, sondern bloß etwas über das Wort ‹azzurro› sagen und darlegen, warum die Sportlerinnen und Sportler der italienischen Nationalmannschaften (nicht bloß die Fußballerinnen und Fußballer) blaue Trikots tragen und demzufolge ‹azzurre› beziehungsweise ‹azzurri› genannt werden.
Zunächst jedoch ein paar Hinweise zur allgemeinen Problematik der Farbenbenennung in der Linguistik:
Wenn unsere Kinder oder Enkelkinder reden lernen, lernen sie in der Regel sehr früh, meistens noch vor den Zahlen, mit Hilfe eigens dazu ausgedachter Spielzeuge, mit lehrreichen Büchlein oder mit geduldigen Großeltern, Patinnen und Paten, Eltern, Kindermädchen und Farbstiften, die einfachsten Farben: die Grundfarben Rot, Gelb und Blau, dann die Komplementärfarben Grün, Orange und Violett, sicher gehören auch Weiß, Schwarz, Braun und Grau dazu. Dies sind auch die Farbbezeichnungen, denen wir in einer der ersten Lektionen begegnen, wenn wir eine Fremdsprache lernen — wenigstens, wenn es sich um eine moderne indoeuropäische Sprache handelt.
Auf den ersten Blick scheint es da keine Probleme zu geben: Jeder Farbe — meint man — sei in jeder Sprache ein bestimmter Ausdruck zugeordnet. Dass dem nicht so ist, merken wir, wenn wir uns mit nicht indoeuropäischen oder älteren Sprachen auseinandersetzen und feststellen, dass es Sprachen gibt, die Grün und Blau oder Orange und Gelb nicht unterscheiden, wenn wir erfahren, dass für die alten Römer der Dotter nicht orange und nicht gelb, sondern rot war, wenn wir uns gewahr werden, dass Mittelhochdeutsch ‹braun› (oder ‹grau›) auch für ‹violett› stand, oder wenn wir uns fragen, was an Weißwein ‹weiß› sein soll.
Wer zur Problematik der Farbwahrnehmung und Farbbezeichnung etwas Ausführlicheres lesen möchte, findet in folgendem Blog genauere Informationen:
https://tuccillo.ch/begriff-und-begreifen/
Hier will ich mich auf die Farbe Blau beschränken, weil es in diesem Artikel ja um die ‹Blauen› geht:
Das altgermanische Farbadjektiv, das Althochdeutsch als ‹blāo› belegt ist, Mittelhochdeutsch als ‹blā›, Niederländisch ‹blauw›, Altenglisch ‹blǣhǣwen› (hellblau), Schwedisch ‹blå›, ist wie andere germanische Farbenbezeichnungen in die romanischen Sprachen entlehnt worden und hat das lateinische ‹caeruleum› [kärulëum] (blau) verdrängt: Italienisch ‹biavo› (blassblau), Französisch ‹bleu› (blau), daraus Englisch ‹blue›. Das Verwirrspiel mit der Geschichte der Farbbezeichnungen zeigt sich jedoch zum Beispiel darin, dass das Wort ‹blau› etymologisch eng verwandt mit Lateinisch ‹flavus›, was aber nicht ‹blau›, sondern ‹goldgelb›, ‹blond›, auch ‹rothaarig› bedeutet und auf die indoeuropäische Wurzel ‹*bhel-› (schimmernd, leuchtend, glänzend) zurückgeht.
Es stimmt zwar, dass heute die meisten Italienerinnen und Italiener, wenn sie allgemein die Farbe Blau bezeichnen, ‹blu› sagen. Aber dies ist eine neuere Erscheinung, denn ‹blu› meint eigentlich nur das dunkle Indigoblau etwa neuer und noch nicht ausgewaschener Jeans. Die Bezeichnung für die allgemeine blaue Farbe ist ‹azzurro› — wie es auch im Spanischen und Portugiesischen der Fall ist: ‹azul›.
Das Wort kommt aus dem Arabischen ‹لازورد› [lāzäuärd] (himmelblau), was seinerseits aus dem Persischen ‹لاجورد› [lāǧevard] (Lapislazuli) stammt; ‹lapis› ist das lateinische Wort für ‹Stein›. Bereits in der Spätantike und erst recht im mittelalterlichen Latein hat ‹lazur›, als Farbbezeichnung für das Blau, das klassisch lateinische ‹caeruleum› komplett ersetzt.
Jetzt wissen wir, warum die italienischen National-Sportlerinnen und -Sportler ‹azzurre› und ‹azzurri› und nicht ‹blu› heißen. Aber warum tragen sie überhaupt Blau?
Als 1910 die italienische Männer-Fußball-Mannschaft ihr erstes Länderspiel (gegen Frankreich) spielte und verlor, spielten die Italiener ganz in Weiß; ein schmaler grüner und auf der andern Seite ein roter Streifen vom Ärmelansatz der Achselhöhle bis zur Hüfte ergaben mit dem Weiß des Trikots die italienischen Flaggenfarben. Bereits ein Jahr später, 1911, traten die Italiener gegen England und kurz darauf gegen Ungarn an. Diesmal gewannen sie beide Spiele. Und diesmal spielten sie in ‹azzurro› mit dem Savoyer-Kreuz auf der Brust. Die oft geäußerte Vermutung, die Änderung der Bekleidung sei dadurch begünstigt worden, dass Ungarn dieselben Flaggenfarben hat wie Italien, ist nachvollziehbar — einen Beleg für diese Vermutung habe ich allerdings nirgendwo gefunden; zudem hat das Team die Farbe bereits im zweiten Spiel gegen England geändert und erst dann gegen Ungarn gespielt.

Die Italiener von 1910, die gegen Frankreich verloren.
Vermutet und leichtsinnigerweise oft geschrieben hat man auch, die blaue Farbe symbolisiere das schöne blaue Mittelmeer, das il ‹Bel Paese› ligurisch, tyrrhenisch, ionisch und adriatisch umgarne, und den wundvollen blaue Himmel (als wären das Meer und der Himmel anderswo nicht genauso blau)!
Das Blau der Azzurri ist das Blau des Königshauses Savoyen! Und das rote Sankt-Georg-Kreuz auf weißem Grund, welches man heute für die englische Flagge hält, war bereits Jahrhunderte zuvor die Flagge der Seefahrer-Republik Genua gewesen.

Wappen der Republik Genua (Repubblica Marinara di Genova‘)

Wappen des Hauses Savoyen mit den inversen Farben des Kreuzes und mit dem blauen marianischen Hintergrund.
Ende 19. und Anfang 20. Jahrhundert spielte Fußball im südlicheren Teil Italiens, im ehemaligen Borbonenreich kaum eine Rolle. Die besten Fußballmannschaften waren im Norden: Genoa, Torino, Sampierdarena und Andrea Doria, die später zu Sampdoria fusionierten, Pro Vercelli, Alessandria… es war fast ausschließlich eine savoyische Angelegenheit. Daher war die italienische Nationalmannschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts eigentlich die Nationalmannschaft des Piemonts und Liguriens.
Was hat aber das Blau als Hintergrundfarbe des savoyischen Königswappens zu bedeuten? — Nun, die Savoyer verehrten Maria, die Mutter Jesu, und hatten sie zu ihrer Schutzpatronin ernannt. Und weil die Madonna in mittelalterlichen Fresken und Gemälden der Renaissance mehrheitlich in einem blauen Gewand dargestellt ist, wählten die savoyischen, später italienischen Könige bereits im 16./17. Jahrhundert die Farbe des Mantels Mariä als Farbe ihrer Royalität.

Raffaello Sanzio Da Urbino, «Madonna dell’Alba», Olio su legno trasferito a tela, 1511 circa, conservato nella ‹National Gallery of Art› di Washington, USA.
Auch nach 1911 behielt das italienische Fußballteam die blaue Farbe bei, die sich freilich ab und zu um Nuancen im Farbton veränderte und gewann damit 1934 und 1938 den Weltmeistertitel. Als sich am 2. Juni 1946 die Italienerinnen und Italiener in einer Volksabstimmung gegen die Monarchie und für die Republik entschieden, wurde der König ins Exil (in die Schweiz) geschickt und das ‹scudetto› (Schildchen) mit dem genuesisch-savoyischen Wappen wurde durch das ‹tricolore› ersetzt. Seither tragen alle Athletinnen und Athleten italienischer Nationalmannschaften, von den Turmspringerinnen zu den Bogenschützen, von den Bob-Fahrern zu den Turnerinnen, von den Beach-Volley-Spielerinnen zu den Ruderern: AZZURRO!
In eigener Sache:
‹Azzurra› ist auch eine Erzählung von mir (aus ‹Geschichten ohne festen Wohnsitz›), mit der ich den ersten Preis im Kurzgeschichtenwettbewerb der ASIS (Associazione scrittori di lingua italiana in Svizzera) gewonnen habe. Es ist noch immer die Geschichte, die mir mehr als alle anderen am Herzen liegt. Sie ist nicht autobiografisch und dennoch hat sie mehr als jede andere mit mir und mit meinem In-der-Welt-Sein zu tun. Ihr findet sie für nur neun Euro (zusammen mit allen anderen ‹Geschichten ohne festen Wohnsitz›) zum Download hier:
https://buchshop.bod.ch/geschichten-ohne-festen-wohnsitz-alberigo-tuccillo-9783756284061
Es würde mich sehr freuen, wenn ich von Leserinnen und Lesern eine Reaktion darauf bekommen würde.