Demokratie und Kultur

fbrugger Gesellschaft

«Wozu soll ich mich mit euklidischer Geometrie herumschlagen, wo ich doch Krankenschwester werden will? Und was kümmern mich die Kiemenbögen der Althaie, wenn ich eine Lehre als Tiefbauzeichner machen möchte? Was nützt mir die Wellenoptik auf dem Reisebüro? Und warum zum Teufel sollte ich Fremdsprachen lernen, wo ich doch nicht einmal in der Muttersprache etwas zu sagen habe?» — Falls Sie sich und andern je solche Fragen gestellt haben, machen Sie sich kein Gewissen: Sie sind durchaus in guter Gesellschaft, Sie liegen im Trend, Sie teilen die Meinung derer, die in der Nützlichkeit etwas Nützliches sehen und im Unnützen etwas Nutzloses, folglich teilen Sie die Meinung der Mehrheit.

In einem einfachen Verständnis von Demokratie hat die Mehrheit immer Recht. Sie kann gar nicht Unrecht haben, weil sie das Recht macht: Richtig ist, was die Mehrheit denkt, also ist das, was die Mehrheit denkt, richtig.

Wie sähe es aber in einer utopischen Demokratie aus, in der die Aufgabe der Mehrheit nicht wäre, die Wahrheit zu bestimmen, sondern sie herauszufinden? Was wäre, wenn die Mehrheit ahnen würde, dass sich die Wahrheit verstellen, verkleiden, schminken, tarnen, verändern kann, ja, dass die Wahrheit vielleicht sogar eine notorische Lügnerin ist, der man nur selten auf die Schliche kommt?

Dann wäre mit einemmal die Mehrheit daran interessiert, alle Wahrheiten, egal in welchem Gewand sie daherkommen, zu hüten und zu pflegen, als wären es die eigene, denn jede von ihnen könnte sich in ihrer nächsten Verkleidung als die richtige erweisen. Das größte Anliegen der Mehrheit wäre dann plötzlich der Schutz der Minderheiten, und der Mehrheit der Minderheiten würde selbstredend viel daran liegen, sich im Schutze einer solchen Mehrheit zu wissen.

Das Wissen darüber, dass man die Wahrheit nie besitzt, dass sie einen immer wieder verschaukelt, dass man ihr immerzu nachlaufen muss und dass der Irrtum überall lauert, wäre natürlich anstrengend. Eine solche Demokratie wäre keine unerschöpfliche Speisekammer, sondern ein karger Acker, dem selbst bei bestem Saatgut und selbst durch schwere Mühsal nur eine magere Ernte abzugewinnen wäre. Man müsste pflügen und düngen und hoffen, dass es nicht hagelt. Eine solche Demokratie müsste man ständig bebauen, kultivieren, es wäre eine heikle, delikate, zerbrechliche Kultur, eine Kultur, die verödet, sobald die Pflege nachlässt.

In einer solchen Demokratie müssten diejenigen, die unermüdlich Irrtümer aufdecken und durch neue ersetzen, diejenigen, die ohne Unterlass verunsichernde Fragen stellen, die Künstlerinnen, die Dichter, die Hofnärrinnen und die Balladensänger geradezu gefördert werden; und zwar nicht — wie in der wirklichen und wahren Demokratie — weil sie uns das Leben versüßen, nicht weil sie uns etwas Ablenkung verschaffen, sondern im Gegenteil: Sie wären bitter nötig — bitter und nötig, und ihr einziges Amt wäre, uns davon abzuhalten, uns ablenken.

In einer solchen Demokratie wäre das Wissen, obwohl es immer unsicher wäre, paradoxerweise viel wichtiger als es uns ist, und niemand würde sich oder andere je fragen: «Wozu soll ich mich mit euklidischer Geometrie herumschlagen, wo ich doch Krankenschwester werden will? Und was kümmern mich die Kiemenbögen der Althaie, wenn ich eine Lehre als Tiefbauzeichner mache? Was nützt mir die Wellenoptik auf dem Reisebüro? Und warum zum Teufel sollte ich Fremdsprachen lernen, wo ich doch nicht einmal in der Muttersprache etwas zu sagen habe?» — Die Verunsicherung wäre ganz selbstverständlich und natürlich, so wie Sie jetzt selbstverständlich und natürlich verunsichert sind.

Aber gottseidank weiß die Mehrheit, dass sie in einer so anstrengenden Demokratie nicht leben will. Und da in der Demokratie, in der die Mehrheit leben will, die Mehrheit Recht hat, weiß sie, was sie weiß, und es ist ihr recht, wenn sie nicht weiß, woher sie das weiß.