Der himmlische Bruder eines Dickerchens

Alberigo TuccilloGeschichte, Gesellschaft, Kunst und Kultur, Sprache Schreibe einen Kommentar

Der als Alessandro (oder Sandro) Botticelli bekannte Renaissance-Maler wurde 1445 als Sohn des Gerbers Mariano di Vanni Filipepi mit dem Namen Alessandro di Mariano di Vanni Filipepi in Florenz geboren. Zu der Zeit regierten in Florenz die deʼ Medici und in der ganzen reichen Region Toskana blühten Landwirtschaft, Handel, Handwerk, Architektur, Wissenschaften, Bankenwesen und die Künste.

Auch nach Jahrhunderten völlig unsinniger Kriege zwischen den toskanischen Städten, die keiner Stadt etwas anderes einbrachten als Nachteile, Leid und unsägliche Verluste, hielten jedoch die törichten militärischen Auseinandersetzungen und der irre Glauben, dass Schlachten und Belagerungen irgendeinen Sinn und Nutzen hätten, weiter an, auch wenn sie allmählich doch etwas weniger häufig wurden und jeweils weniger lang dauerten. Sandros Vater hätte es gern gesehen, wenn sein Sohn eine militärische oder politische Karriere angestrebt hätte, doch der Junge schien nicht dazu geschaffen, das Schwert zu schwingen oder eine Stadt zu regieren. Sein erster Biograf, der Architekt Giorgio Vasari (1511-1574), attestiert dem Jungen mangelnden Fleiß in der Schule, wo er immer unruhig, unglücklich, rastlos war, häufig sogar aufmüpfig, rebellisch und mit keinem Unterricht je zufrieden gewesen sei. Sein Vater, der arbeitsame, geschäftstüchtige und daher auch wohlhabende Gerber, hoffte, dass Sandro den Weg zu einer soliden Ausbildung und Berufstätigkeit einschlagen würde. So machte der Junge auf dessen Drängen zunächst eine Ausbildung zum Goldschmied, wo ihm immerhin Präzision und Detailgenauigkeit eingetrichtert wurden. Doch Gold und Edelsteine berührten seine Seele kaum. Einige Schmuckstücke, die gesichert aus seiner Hand sind, sind noch erhalten und gelten als frühen Beweis für sein außerordentliches handwerkliches Geschick und Talent, aber ihm selbst bedeutete die Goldschmiedekunst fast gar nichts, und er äußerste sich stets bloß despektierlich darüber.

Im Gegensatz zu ihm bedeuteten seinem älteren Bruder Giovanni Wohlstand, Reichtum, ein lukullisches und ausschweifendes Leben sehr viel, was zu dessen Leibesfülle führte und ihm den Spitznamen Botticello, kleines Fass, eintrug! Seltsamerweise wurde dieser Spottname schon bald auch Sandro und allen Familienmitgliedern angeheftet, obwohl weder er noch andere Verwandte nur annähernd so adipös waren wie Giovanni. Sie galten in der Stadt schlicht und einfach alle als ‹die Fässchen›, die Botticelli, was schließlich zu ihrem Familiennamen wurde.

Bereits während seiner Ausbildung zum Goldschmied entdeckte Sandro Botticelli sein Talent und seine Leidenschaft für Zeichnung und Malerei. So wurde er zunächst als Autodidakt Maler und ging später bei Fraʼ Filippo Lippi, einem der besten Künstler der damaligen Zeit, in die Lehre. Bei ihm erlernte er die Kunst des Geschichtenerzählens durch Inszenierungen auf einer Leinwand oder auf einer hölzernen Tafel, den Gemütszustand der Figuren durch den Ausdruck deren Gesichter darzustellen und eine Grundstimmung durch gezielte Auswahl und Kombination von Farben und Lichtkontrasten hervorzurufen.

Es dauerte nicht lange, bis Lorenzo deʼ Medici, genannt Lorenzo il Magnifico, auf den jungen Botticelli aufmerksam wurde und ihn sofort als einen seiner Hofmaler aufnahm. Lorenzo deʼ Medici wurde sein väterlicher Förderer, sein Mäzen und Beschützer. Und dort am Hof der deʼ Medici sah Botticelli auch Simonetta Vespucci — die Impareggiabile, die Unvergleichliche, wie man sie in Florenz nannte — zum ersten Mal, die zu seiner Muse, zu seiner Passion und zur unerschöpflichen Inspirationsquelle wurde, wie es zuvor Beatrice für Dante und Laura für Petrarca gewesen waren. Simonetta starb bereits mit zweiundzwanzig Jahren, aber sie blieb Botticellis Besessenheit, seine unvergängliche Liebe. Er malte sie in ‹Die Geburt der Venus› als Göttin, die aus dem Meer steigt, in der ‹Primavera›, im ‹Frühling›, umgeben von Blumen und Gottheiten und in unzähligen anderen Gemälden.

Sandro Botticelli
‹Ritratto di giovane donna›
(idealisiertes Porträt von Simonetta Vespucci)
ungefähr 1482
Städelsches Kunstinstitut Frankfurt.

Botticellis Bilder unterscheiden sich grundlegend von den anderen Werken seiner Zeit. Andere Maler suchten den perfekten Realismus, die übergenaue Darstellung der Anatomie, die exakt geometrisch berechneten Schatten und die mathematisch präzise konstruierte Perspektive. Botticelli hingegen wollte Effekte erzielen und Affekte auslösen, wollte nicht Bewegtes, sondern die Bewegung an sich malen, die Melancholie, die Entzückung, die Erwartung, die Hoffnung, die Besorgnis, die Heiterkeit. Und ganz Florenz betete ihn dafür an.

Aber dann veränderte sich Florenz jäh! In die lebensfrohe, strahlende, in die ökonomisch, wissenschaftlich und künstlerisch fortschrittlichste Stadt Europas kam Girolamo Savonarola, der grame Mönch, der düstere Prediger, die Stimme des Zorns, der Feind von allem, was der menschliche Geist an Schönheit und Erkenntnis hervorgebracht hatte.

Der religiöse Eiferer donnerte gegen die Kunst, gegen die Kreativität, gegen die Wissenschaft, gegen jede Art von Fortschritt, gegen Sinnlichkeit, gegen jede Art von Lust, gegen alles, was seiner morbiden Vorstellung von Spiritualität und Gottesfurcht nicht entsprach, und vor allem gegen die Medici. Und tragischerweise hörte Florenz dem herzlosen Fanatiker zu.

Bücher, Gemälde und Luxusgüter wurden verbrannt. Scheiterhaufen der Eitelkeiten loderten auf, und auf einem davon wurde schließlich Savonarola selbst verbrannt. Manche sagen, Botticelli hätte viele seiner Gemälde aus Angst, im Wahnsinn selbst vernichtet. Gesichert und belegt ist diese oft wiederholte Behauptung nicht. Sicher ist nur, dass Florenz nach Savonarola von seiner Kunst nichts mehr wissen wollte.

Während die Welt Leonardo, Michelangelo und Raphael umarmte, verblasste sein Name und fiel in Vergessenheit. Seine Bilder schienen antiquiert, zu anmutig, zu zart, zu filigran und geheimnisvoll für die neue Kunstepoche. Die Medici waren entmachtet, und damit waren auch die materielle und finanzielle Sicherheit Botticellis verloren.

Sandro Botticelli starb 1510 von der Stadt und der Welt vergessen, in einem kleinen Haus in der Nähe der Allerheiligenkirche (Chiesa di Ognissanti). Kein angemessenes Grabmal bekam er und keine Abdankungsfeier. Nur Stille.

Doch weil Schönheit nie stirbt, kehrte Jahrhunderte später nicht bloß das Interesse an seinem Namen zurück, sondern auch die Anerkennung und Würdigung seiner Kunst. Die ‹Geburt der Venus› wurde wiederentdeckt und stieg erneut zum festen Ufer der sinnlichen Welt auf. Man entdeckte seinen ‹Frühling› wieder, und ein neuer Frühling erblühte für die Malerei und für das Andenken seiner Meisterhaftigkeit, seines Genies.

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