Das Wort ‹lässig› bedeutet, wie allgemein bekannt, ‹ungezwungen›, ‹ohne Förmlichkeit›, ‹nicht sehr sorgfältig›, jedenfalls ‹nicht akribisch›, ‹locker›. Auch wenn Bedeutung und Verwendung des Ausdrucks für Deutschsprachige nie ein Problem darstellen, gibt es meiner Meinung nach doch einiges klarzustellen: Erstens gehört das Wort nicht zur (lässigen) Jugendsprache, sondern ist im Gegenteil sehr alt! Zweitens ist es etymologisch nicht verwandt mit dem Verb ‹lassen›! Auch wenn die sonst recht zuverlässige Plattform ‹Wiktionary› dies behauptet. (Ich habe den Fehler gemeldet. Es wird jedoch eine Weile dauern, bis die Korrektur ausgeführt wird.)
Beginnen wir mit dem zweiten Irrtum: Wahrscheinlich hat die Endung ‹-lässig› in ‹fahrlässig›, ‹nachlässig› oder ‹zulässig› dazu verleitet, eine leider nicht richtige Analogie zu vermuten. In ‹fahrlässig› leitet sich die Endung tatsächlich von ‹lassen› ab, denn es bedeutet ‹unkontrolliert fahren lassend›, ‹nachlässig› bedeutet ‹nachlassend› und ‹zulässig› bedeutet, dass etwas ‹zugelassen werden kann›.
Das sehr alte und nur deutsche Adjektiv ‹lässig› hat jedoch einen ganz anderen Ursprung: Althochdeutsch ‹laʒ› und Mittelhochdeutsch ‹lāsz› bedeutet ‹müde›, ‹matt›, ‹schlaff›. Damit sind verwandt: Gotisch ‹lats› (träge), Schwedisch ‹lat› (träge, faul), Englisch ‹late› (ursprünglich: langsam, dann: spät). Auch das lateinische Adjektiv ‹lassus› (matt, müde) ist damit verwandt, und das französische ‹las, lasse› (müde); ebenso das englische ‹lazy› (träge, faul, lustlos). Neuhochdeutsch gab es bis ins 19. Jahrhundert auch das heute nicht mehr gebräuchliche Wort ‹lass› (matt, müde, schlaff). — (Auch wenn es veraltet ist, ist es dennoch nützlich, sich das Wort zu merken, denn in der älteren deutschen Literatur stößt man oft darauf, etwa bei Andreas Gryphius.)
Das weitaus Interessantere folgt aber jetzt: Wenn das althochdeutsche ‹laʒ› ein Adjektiv ist, ist zu erwarten, dass es auch eine Steigerungsform hat. Und die hat es tatsächlich: ‹laʒʒōst› (eigentlich: am müdesten, am trägsten, oder der Müdeste, Trägste). Man stelle sich nun folgende Situation vor: Auf dem Dorfplatz gibt es ein Fest. Im 9. Jahrhundert ist man hungrig. Sehr hungrig! Immer! Grundsätzlich! Unabhängig von Alter, Stand und Geschlecht! Und das Dorfoberhaupt spendiert zum Anlass Hirsebrei, feinen, leckeren Hirsebrei, ohne Salz, natürlich auch ohne Gewürze, dafür mit Schweinefett, leicht ranzig zwar, aber nahrhaft! Selbstverständlich rennen da alle los! Zum Haus des Dorfoberhauptes. Zum riesigen Topf, in dem der Brei kocht, umgerührt und den Hungrigen nun verteilt wird. — Ha! Aber was ist mit dem Müdesten und Trägsten? Der kriegt, wenn er Glück hat, noch das Angebrannte, was vom Boden des Topfes herausgekratzt wird. Der Müdeste und Trägste ist eben immer der ‹laʒʒōst›, der Letzte! — So erklärt sich, dass aus dem Müdesten der Letzte wurde und das Wort, schließlich von der Müdigkeit befreit, auch für Dinge oder für Abstrakta, die in einer Reihenfolge stehen, verwendet werden konnte: der letzte Bissen, das letzte Mahl und das letzte Mal, letztes Jahr und letzten Sonntag…
Und wenn sich nun jemand fragt: «Hat denn der Verletzte etymologisch auch etwas mit dem Letzten zu tun?» — Aber ja! Das Verb ‹verletzen› bedeutete ursprünglich ‹zur Erschöpfung bringen, die Kräfte rauben, kampfunfähig machen, zermürben›. — Das Substantiv ‹Verletzung› ist erst ab dem 14. Jahrhundert belegt, was nicht zwingend bedeutet, dass es vorher nicht existierte. Dass es auch seelische Verletzungen gibt und dass man durchaus auch mit Gesten und Worten verletzen kann, merkte man erst im 17. Jahrhundert (und viele haben es im 21. Jahrhundert wieder verlernt und vergessen — nicht bloß in den sozialen Medien).
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Kommentare 4
Jaja, der gute Robert Lembke hat auch gesagt, dass einer, der sich lässig kleide, doch meist einfach nachlässig meine…
Aber das frz. las, lasse – müde – dürfte wohl damit verwandt sein.
Ich hoffe sehr, dass dies nicht dein letzter linguistischer Beitrag war!
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Danke, Stephan, für deinen wie immer heiteren und wohlwollenden Kommentar! — Ja! Du hast vollkommen recht: Das französische ‹las, lasse› leitet sich direkt ab vom lateinischen ‹lassus›!
Ein sehr interessanter Artikel mal wieder, ganz ohne laissez – faire.
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😍 Danke, Silke!
Ja! Vom Laissez-Faire des Wirtschaftsliberalismus distanziere ich mich entschieden!