Dezimierung

Alberigo TuccilloGeschichte, Gesellschaft, Sprache 2 Kommentare

Im heutigen Sprachgebrauch bedeutet ‹dezimieren›: Durch einen gewaltsamen Eingriff oder durch zerstörerische Einwirkung etwas in der Anzahl, im Bestand stark vermindern, verringern, ausdünnen.  Beispiele: ‹Borkenkäfer dezimieren den Waldbestand›; ‹DNA-Analysen deuten darauf hin: bereits im Neolithikum dezimierte die Pest Europas Bevölkerung›; ‹Die Insektenpopulation wird durch Einsatz von Herbiziden dezimiert›.

Das Verb ist von Lateinisch ‹decem› (zehn) und ‹decimus› (der Zehnte) abgeleitet.

Die ursprüngliche Bedeutung und die Entstehung des Wortes sind jedoch nichts als ein tristes Zeugnis der Grausamkeit, ja geradezu der Menschenverachtung und Gnadenlosigkeit, zu der Machtbesessene seit jeher fähig waren (und leider noch heute sind). Das Verb ‹dezimieren› bedeutete anfangs: ‹jeden zehnten, unschuldigen, durch Los bestimmten Mann einer Militäreinheit als Kollektivstrafe für eine ganze Truppe hinrichten›.

Titus Livius berichtet als Erster in seinem Monumentalwerk ‹AB URBE CONDITA› (Seit der Stadtgründung Roms) über die Entstehung des haarsträubenden Brauchtums: Als 471 v. Chr. Krieger des italischen Stammes der Volsker aus dem damaligen Etrurien, dem Gebiet der heutigen Toskana und Umbriens ins von den Römern beherrschte Latium einfielen, weigerten sich die römischen Legionäre zunächst aus nicht geklärten Gründen, die Eindringlinge gewaltsam zurückzuschlagen. Die Volsker waren jedoch weniger friedfertig und mitnichten zu gewaltlosen Verhandlungsgesprächen bereit, griffen ihrerseits mit überraschender Wucht an und konnte so die ungenügend vorbereiteten Römer in Flucht schlagen. Der römische Feldherr Appius Claudius Sabinus, der zu jener Zeit den Oberbefehl über die römischen militärischen Einheiten hatte, war über das klägliche Verhalten seiner Armee so erzürnt, dass er sich zur Wiederherstellung des blinden Gehorsams und der bedingungslosen Unterwerfung eine Strafe aussann, die folgendermaßen aussah: Sämtliche Offiziere ließ er zuerst auspeitschen und dann hinrichten. Noch schrecklicher war, was mit den einfachen Soldaten geschah: die eigentliche Dezimierung! Das hieß: Feldherr Appius Claudius ließ die Centurien (Einheiten von zehn Gliedern zu zehn Kolonnen, also von hundert Mann) in Formation antreten; danach bekamen die Legionäre den Befehl, jeden Zehnten in den eigenen Reihen zu fesseln und hinzurichten. Die Hinrichtung erfolgte durch zu Tode Prügeln mittels Stockhiebe oder durch Steinigung, weil die Enthauptung durch das Schwert oder durch die Axt tapfer und mutig kämpfenden Gegnern vorbehalten war, also als ‹ehrenhaft› und in der morbiden militärischen Logik gewissermaßen als eine Art Auszeichnung galt.

Die Todeskandidaten wurden jeweils durch das Los bestimmt: In einem Gefäß wurden neunzig weiße und zehn schwarze Kugeln gelegt, von denen jeder Legionär einer Centurie eine zu entnehmen hatte. Wer eine schwarze Kugel zog, musste von seinen Kameraden getötet werden.

Diese grausame und völlig unsinnige Disziplinarmaßnahme wurde während der ganzen republikanischen Zeit, während der Republik und während des Kaiserreichs, also mehr als achthundert Jahre lang angewandt. (Von den römischen Kaisern machten allerdings nur noch wenige und nur sehr selten von der Dezimation Gebrauch.) Dies ist jenseits aller Zweifel sicher und durch unzählige gänzlich unabhängige Quellen übereinstimmend dokumentiert. Darüber berichten neben Appius Claudius Sabinus auch Fabius Maximus Rullus, Marcus Licius Crassus, Gaius Julius Cäsar, Domitius Calvinus, Marcus Antonius, Cäsar Augustus Octavianus, Lucius Apronius, Servius Sulpicius Galba, Iulianus Apostata (Φλάβιος Κλαύδιος Ἰουλιανός [Flávios Kláudios Julianós]). Plutarch beschreibt die Praxis als eine sehr effiziente Methode, um eine Truppe zu disziplinieren, ohne ihre Kampfkraft allzu sehr zu schwächen.

Von Gaius Iulius Caesar wird folgende Episode überliefert: Nachdem es im norditalienischen Placentia (heute Piacenza) zur Meuterei unter den unzufriedenen Truppen gekommen war, soll Caesar den aufsässigen Einheiten seiner Legio VIII Hispana angedroht haben, die Dezimation durchführen zu lassen und die übrigen als untauglich nach Hause zu schicken. Er tat dies, um die Meuterei zu unterdrücken, sich aber gleichzeitig nicht anmerken zu lassen, wie sehr er auf jeden Mann angewiesen war. Als die Soldaten darum baten, im Dienst bleiben zu dürfen, gab Caesar erst nach längerem Sträuben nach, verlangte aber, dass ihm hundertzwanzig Rädelsführer ausgeliefert würden. Von diesen ließ er jeden zehnten auslosen und hinrichten.

Die letzte bekannte Dezimierung der Antike fand im 6. Jahrhundert statt und wird im ‹Strategikon› des oströmischen Kaisers Maurikios (Φλάβιος Μαυρίκιος Τιβέριος [Flávios Mauríkios Tibérios]) erwähnt, einem spätantiken Militärhandbuch in griechischer Sprache.

Auch nach dem Ende der Antike kam es vereinzelt zu Dezimationen. Berichte über die Anwendung der Strafe sind von Karl dem Großen und aus dem Dreißigjährigen Krieg bekannt. Ebenso wie die Österreicher in der Schlacht bei Breitenfeld (1642) ließ der französische Marschall François de Créquy im Holländischen Krieg bei Trier aufrührerische Truppen dezimieren.

Auch Adolf Hitler bezog sich 1934 in seiner Rechtfertigungsrede nach dem Röhm-Putsch auf die Dezimation: «Meuternde Divisionen hat man zu allen Zeiten durch Dezimierung wieder zur Ordnung gerufen. Nur ein Staat hat von seinen Kriegsartikeln keinen Gebrauch gemacht und dieser Staat ist dafür auch zusammengebrochen: Deutschland.» — In seinem Buch über die Schlacht von Stalingrad berichtet der britische Historiker Antony Beevor von der Durchführung der Dezimation durch einen Kommandanten der Roten Armee.

Hin und wieder, obwohl selten, wurden im Lauf der Geschichte auch etwas mildere Varianten des idiotischen Brauchs praktiziert: die ‹Vigesimatio›, bei der ‹nur› jeder Zwanzigste, und die ‹Centesimatio›, bei der nur jeder Hundertste massakriert wurde. Verantwortlich für diese abgeschwächte Barbarei war allerdings jeweils nicht ein Anflug von Humanität, sondern allein die ökonomische Abwägung des Verlustes an Kampfkraft. Sprachgeschichtlich blieben sowohl ‹Vigesimatio› als auch ‹Centesimatio› folgenlos.

Kommentare 2

  1. So ähnlich auch in Frankreich siehe den Film « Wege zum Ruhm » der auf historischen Fakten beruht zumindest in Bezug auf die Hinrichtungen

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