Der Hippocampus ist eine Gehirnregion, die zum so genannten limbischen Kortex oder limbischen System gehört und an der Bildung von Gedächtnisinhalten und an Lernprozessen beteiligt ist. Was dies genau bedeutet und was selbstverständlich jeder Ärztin und jedem Arzt bestens bekannt ist, kann und will die Sprachwissenschaft nicht erläutern. Beschäftigen können wir uns hier allenfalls mit dem, was möglicherweise nicht jedem und nicht jeder bekannt ist, nämlich mit der ursprünglichen und in der Zoologie immer noch eigentlichen Bedeutung des Wortes ‹Hippocampus› — was gelegentlich auch zu einer falschen Aussprache führt.
Fangen wir gleich bei der Aussprache an: Die ersten beiden Silben des Wortes müssen ‹hippo› und nicht ‹hüppo› ausgesprochen werden, denn das Wortelement ist nicht ‹hypo-› (unter, unterhalb, geringer, tieferliegend), sondern ‹hippo› (Pferd)!
Das griechische Wort ‹‹ἵπποκάμπος› [hippokámpos] setzt sich zusammen aus ‹ἵππος› [híppos] (Pferd) und ‹κάμπος› [kámpos] (Ungeheuer). In der antiken Literatur und Mythologie wurden damit schreckliche Meeresmonster bezeichnet, die einen pferdeähnlichen Kopf und den Leib einer enormen Schlange besaßen und Schiffe mitsamt ihrer Fracht und Besatzung verschlangen. Wahrscheinlich hat der optische Eindruck des heftigen Wellengangs während eines Seesturms, in dem Schiffe kenterten und untergingen, zur Vorstellung einer riesigen Schlange mit einem gigantischen Pferdekopf geführt. Italienisch werden beispielsweise große Wellen im Meer ‹cavalloni› (große, mächtige Pferde) genannt.
Aus dem ursprünglichen griechischen grauenerregenden Hippokampos wurde später ein wesentlich harmloseres lateinisches Hippocampus, das zum niedlichen Seepferdchen schrumpfte. Die wissenschaftliche Bezeichnung der Gattung der Seepferdchen ist denn Hippocampus, zum Beispiel ‹Hippocampus algiricus› (Atlantisches Seepferdchen).
Der italienische Anatom Giulio Cesare Aranzi (latinisiert Julius Caesar Arantius) beschrieb 1564 an der Universität Bologna das oben genannte Hirnareal, das limbische System, und fertigte sehr detaillierte und genaue Zeichnungen der Sektionen an. Ihm fiel die verblüffende Ähnlichkeit des besagten Bereichs des Gehirns mit dem Meerestierchen auf. In der Beschriftung seiner Tafeln taucht das Wort ‹Hippocampus› für die untersuchte und beschriebene Hirnregion denn auch zum ersten Mal auf.
Arantius prägte darüber hinaus einige weitere anatomische Bezeichnungen wie den ‹Ductus venosus Arantii›, den ‹Aquaeductus cerebri›, die ‹Noduli valvarum semilunarium› und viele mehr.
Nicht gesichert oder sogar anzuzweifeln ist, ob auch der Begriff ‹limbisches System› von Arantius geprägt wurde. Der ‹Limbus› bezeichnet nämlich in der katholischen Theologie die Vorhölle, wo etwa die unschuldigen Seelen ungetauft verstorbener Kinder hinkommen. Gelegentlich wird dieser Bereich der Hölle, in dem keine zusätzliche Bestrafung stattfindet (außer, dass bereits die Idee einer solchen Einrichtung eine entsetzliche Strafe wäre), weil die dort weilenden Seelen ja selbst für die bösartigste punitive Theologie unschuldig sind, auch ‹Höllenvorhof› oder ‹äußerster Höllenkreis› bezeichnet. — Zu Beginn von Dantes ‹Göttlicher Komödie› gerät Dante, ohne es sich erklären zu können, in einen furchterregenden dunklen Wald und dann in die Nähe der Hölle. Da begegnet er Vergil, der ihn zunächst in den Limbus führt, wo dieser (oder vielmehr: dessen Seele) auch wohnt. Dante ist erstaunt und befremdet darüber, dass der tugendhafte und verehrenswerte lateinische Dichter in der Hölle weilen muss. Dieser erklärt ihm aber, er, Vergil, habe zu der Zeit der ‹falschen und lügnerischen Götter› (Li dèi falsi e bugiardi) gelebt; so habe er sich nicht für Jesus Christus entscheiden können, was nach einschlägiger Logik Grund genug ist, ewige Verdammnis hinzunehmen, ohne zu meckern.