linguistica informatica

Eine Hand wäscht die andere

Alberigo Tuccillo Gesellschaft, Sprache, Wissenschaft 2 Kommentare

Mein jüngerer Sohn Andrea ist Informatik- und Robotik-Ingenieur und steckt trotz seiner überragenden Intelligenz und trotz seines Alters noch immer ein bisschen in der ödipalen Phase. Er akzeptiert es einfach noch nicht, dass er mit bald dreißig Jahren seinen Vater inzwischen nur noch ehren und wegen seiner Lebenserfahrung schätzen, lieben und um Rat angehen sollte. Stattdessen reibt er einem alten Linguisten — schelmisch auf den Stockzähnen grinsend — immer wieder unter die Nase, dass es in den vergangenen Jahrzehnten und in unzähligen Fällen die Informatik war, die Jahrhunderte alte linguistische Probleme endlich gelöst hat. Selbstverständlich ist das Nervigste an der ganzen Sache, dass es wirklich so ist, wie er sagt. Und selbstverständlich ist der alte Linguist in Grunde noch ein bisschen zu jung, um bereits dem senilen Glauben verfallen zu sein, früher, als man noch ausschließlich mit Karteikarten arbeitete und nicht auf einen Bildschirm starrend auf einer Tastatur herumtippte, sei alles besser gewesen.

Wie oft habe ich mir solcherlei anhören müssen! «Weißt du, Papa, wer das Problem der Litterae Aureae, an dem sich Linguisten mehr als hundert Jahren lang die Zähne ausgebissen haben, endlich und in wenigen Stunden gelöst hat?» — «Ja, mein Liebling, es waren die Informatiker. Ich bin so wahnsinnig glücklich darüber.» — oder: «Papa, sagt dir der Name Alan Turing etwas?» — «Ja, mein Sohn, er war sozusagen der erste Informatiker, eigentlich der Erfinder der Informatik.» — «Und weist du auch, welches Problem er gelöst hat, das die Linguisten nicht lösen konnten?» — «Ja, die Sache mit der Verschlüsselung, diese Maschine da, die Enigma…» — «Papa, weißt du, dass die etruskische Grammatik nur dank…» — «Augenblick, Andrea, ich glaube, das Telefon klingelt, ich muss schnell ran…»

Aber jetzt! Jetzt habe ich endlich eine Trumpfkarte auszuspielen! Ich bin nämlich auf ein Problem gestoßen, das die Informatikerinnen und Informatiker lange, sehr, sehr lange schier zur Verzweiflung getrieben hat, ein Problem, das sie einfach nicht lösen konnten. Ein an sich kleines, aber ein ziemlich wichtiges Problem. Ein Problem, das die Informatik und die Robotik in Ratlosigkeit, ja in ergreifende, in rührende Hilflosigkeit gestürzt hatte und das wir — also nicht ich persönlich, aber ‹wir› im Sinne von: die Linguistik — bravourös lösten.

Ach, wir haben es doch gern getan. Ist ja klar. Wir stehen der Informatik doch zur Seite, wenn sie nicht weiter weiß. Ist doch selbstverständlich.

(Wie ich mich darauf freue, dass Andrea morgen Abend zum Essen kommt!)

Als die Ingenieurinnen und Ingenieure den Touchscreen erfunden hatten und auch für die Texteingabe auf Smartphones nutzen wollten, merkten sie, dass sich Geräte zwar immer kleiner bauen lassen, die Finger der Menschen jedoch gleich dick bleiben, und dass man sich folglich beim Eingeben der Buchstaben dauernd vertippte. Eine Anfrage beim Institut für makroskopische Anatomie führte zu keiner brauchbaren Erkenntnis. Man bestätigte lediglich, dass die durchschnittliche Fingerdicke tatsächlich nicht ab-, sondern, obwohl geringfügig, eher zunimmt. Erst nach langer Zeit klopfte die Informatik endlich bei uns im Institut für Linguistik in Canossa an. Wir empfingen sie freundschaftlich und hörten uns unvoreingenommen ihr Anliegen an, weil wir ja nicht kompetitiv denken und es uns nie in den Sinn käme, die eine Wissenschaft höher einstufen zu wollen als die andere. — Gut, ja, wir nickten, als wir das Problem verstanden hatten, vielleicht etwas süffisant und vielleicht etwas zu lange, aber dann erklärten wir als alte, traditionsreiche Wissenschaft der jungen, sozusagen in den Kinderschuhen steckenden Wissenschaft, dass, wenn man einen Buchstaben eingetippt hat, nicht jeder Buchstabe die gleiche Wahrscheinlichkeit hat, der nächste Buchstabe zu sein. Einige Buchstaben sind dann sogar völlig ausgeschlossen und andere fast zwingend. Auf ‹Q› folgt beispielsweise fast immer ein ‹U›; nur sehr selten will man ‹Coq au vin› schreiben, was ja auch Französisch wäre. Übrigens: Diese Wahrscheinlichkeiten hängen von der jeweiligen Sprache ab — sie bilden einen so genannten ‹Fingerprint› einer Sprache. Italienisch kommt beispielsweise ein ‹N› vor ‹B› und ‹P› außer in Fremdwörtern nie vor und ein ‹M› nie vor ‹V› oder ‹F›.

Was ihr also machen müsst, ist lediglich, den aktiven, sensiblen Bereich um einen Buchstaben auf der Touchscreen-Tastatur nicht immer gleich groß zu lassen, sondern in Abhängigkeit seiner Wahrscheinlichkeit jeweils zu vergrößern oder zu verkleinern. Die Listen mit den Wahrscheinlichkeiten für alle Buchstabenfolgen in allen Sprachen liefern wir selbstverständlich! Und selbstverständlich gern!

Nun, wenn ihr unter diesen Post einen Kommentar schreibt, denkt bitte daran, dass der Touchscreen zwar der Ingenieurskunst zu verdanken ist, wenn ihr euch aber weniger oft vertippt, als es in den Anfängen der Smartphones der Fall war, dann…

Was soll ich morgen Abend für Andrea kochen? Ich glaube… LINGUINE!

Kommentare 2

  1. Lieber Alberico
    Endlich! Jawohl endlich, bin auch ich auf diesen Deinen mega tollen, elend interessanten, enorm umfangreichen, mein Sprachinteresse unendlich fördernden Blog gestoßen.
    Dafür erhalte mein bescheidenes, doch umso herzlicheres DANKE SCHÖN!
    mit liebem Gruss
    Rosetta

    1. Post
      Author

      Danke von ganzem Herzen, liebe Rosetta!
      Es freut mich immer, jemandem Freude zu machen, und eine so schöne Anerkennung wie deine tut sehr gut!
      Ich bin dir auch sehr dankbar, wenn du Freundinnen und Freunde und überhaupt Interessierte auf meine Arbeit aufmerksam machst.
      Einen lieben Gruß
      Alberigo

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