Forensische Linguistik 2

Alberigo TuccilloGeschichte, Gesellschaft, Gesellschaft, Sprache Schreibe einen Kommentar

Lange bevor die Sprachwissenschaft begründet wurde, die sich dereinst Linguistik nennen würde, und erst recht lange bevor ihre angewandte Unterabteilung, die ‹forensische Linguistik› aus der Taufe gehoben wurde, gab es bereits Kriminalfälle, die mittels linguistischer Methoden gelöst wurden. Einen solchen Fall aus der Zeit, als noch nicht einmal die Linguistik existierte, poste ich heute als zweite Folge der Reihe, bevor ich dann in den nächsten Tagen die erste Folge hochladen werde, in der die Vielfalt der Anwendungen, die stetig wachsenden Möglichkeiten und immer noch bestehenden Grenzen der Linguistik als Mittel der Kriminalistik und Forensik dargestellt werden.

Selbstverständlich wäre es sinnvoll gewesen, die Reihe, wie ursprünglich auch geplant, mit der Definition und der Entstehungsgeschichte der forensischen Linguistik, also mit der ersten Folge zu beginnen. Da aber einer der Protagonisten dieser zweiten Folge nicht nur Silvester heißt, sondern genau jener Silvester ist, der dem letzten Tag des Jahres den Namen gibt, und da heute der 31. Dezember ist, finde ich es angebracht, mit einer kleinen Rochade zu beginnen. Ich hatte bisher keine Zeit, den die Reihe eigentlich eröffneden und einleitenden Artikel Nummer 1 fertigzustellen, aber ich werde es bald nachholen.

Die ‹Konstantinischen Schenkung an Papst Silvester I.› (Lateinisch ‹Constitutum Constantini› oder ‹Donatio Constantini ad Silvestrem I papam›) ist eine Urkunde, die 314 vom römischen Kaiser Konstantin ausgestellt worden sei und die Silvester I. (Papst von 314 bis 335) und seinen sämtlichen Nachfolgern, also fortan allen Päpsten ‹usque in finem saeculi› (bis zum Ende des Jahrhunderts) die Oberherrschaft über Rom, über die gesamte Westhälfte des Römischen Reiches, aber auch über die gesamte Erde inklusiv der noch unentdeckten Inseln, Kontinenten und Ländern mittels Schenkung übertragen.

Fast das ganze Mittelalter hindurch nutzten alle Päpste die Urkunde, um ihre Vormacht in der Christenheit und um ihre territorialen Ansprüche zu begründen. Es ist nie bekannt geworden, dass sich während Jahrhunderten jemand überhaupt gefragt hätte, warum ein ziemlich abstruses Testament eines blutrünstigen Kaisers, der Rom hasste und aus dem Grund verlassen hatte, ausgerechnet Rom die Oberherrschaft über die Welt übertragen hatte und warum ein oströmischer Kaiser legitimiert sein sollte, irgendjemandem zu schenken, was ihm nicht gehörte — sogar zu verschenken, was noch gar nicht entdeckt war, also vielleicht nicht einmal existierte! Völlig unlogisch ist auch, dass das Dokument dem Papst zuerst bloß die Herrschaft über den westlichen Teil des römischen Reiches überträgt und den Osten folgich ausschließt, in einem folgenden Absatz diese Herrschaft auf die ganze Welt ausdehnt, als wäre das oströmische Reich nicht Teil der Welt. Dafür wurden Legenden konstruiert, die erklären sollten, warum der Papst über alle Christen (und über alle, die noch zur Konversion gezwungen würden) herrschen soll.

Im ersten Teil des Dokuments steht, dass Kaiser Konstantin als Christenverfolger gegen Ende seines Lebens vom Aussatz befallen wurde. Die römisch-heidnischen kapitolinischen Priester raten ihm, «im Blute unschuldiger Kinder zu baden», doch wird er von der Klage deren Mütter von Mitleid ergriffen und schickt Mütter und Kinder nach Hause. Zum Lohn wird er in einem nächtlichen Traum von den ihm erscheinenden Aposteln Petrus und Paulus an Papst Silvester I. verwiesen, der ihm helfen könne. Silvester hält sich am Berg ‹Soracte› vor der Christenverfolgung verborgen. Konstantin lässt Silvester herbeiholen, «der ihn durch ein Taufbad heilt». — In Wirklichkeit konnte Konstantin Papst Silvester gar nicht gekannt haben, denn dieser wurde erst zum Pontifex gewählt, als der Kaiser gestorben war. Konstantin wurde auf dem Sterbebett von Bischof Eusebius von Nikomedia getauft, was eine weitere Diskrepanz aufzeigt: Der nach der Überlieferung erste als Christ handelnde Kaiser soll erst auf dem Sterbebett getauft worden sein! (???) — Nach dieser kuriosen und mysteriösen Heilung soll Konstantin die Ansicht geäußert haben, dass mit Petrus (erster Papst) auch Silvester die Binde- und Lösungsgewalt erhalten müsse.

Bevor wir zur kriminalistischen Auflösung der skurrilen Geschichte kommen, will ich noch ein paar Worte über den armen Silvester sagen. Über ihn weiß man so gut wie nichts. Ein Eintrag in der ewigen Päpste-Liste mit den Jahreszahlen seines Pontifikats (von 314 bis 335) ist alles, was man hat. Seine Bedeutung für die Kirche und seine Heiligsprechung hat er allein dem Umstand zu verdanken, dass er, jenseits jeder realen chronologischen Möglichkeit, als Empfänger der Schenkung im ominösen Dokument genannt wird, das während Jahrhunderten dem Kirchenstaat zu einer unbeschreiblichen Macht verholfen und über Abertausende von Menschen Tod und unsägliches Leid gebracht hat. Alle Legenden über ihn sind im Hoch- und Spätmittelalter entstanden. Zu der Zeit, als dem Heiligen Silvester der 31. Dezember zugeordnet wurde, war noch der julianische Kalender in Kraft. Der gregorianische, der heute gültige, wurde erst 1582 eingeführt. Im julianischen Kalender war der Jahresanfang noch der 1. März, also hat Silvester mit dem Jahresende und der Neujahrsfeier nichts zu tun.

Zwei Gelehrte des 15. Jahrhunderts wiesen dann allerdings nach, dass die Urkunde der Konstantinischen Schenkung eine Fälschung ist! Zuerst weckte 1433 der deutsche Theologe und Philosoph Nikolaus von Kues, latinisiert Nicolaus Cusanus, in ‹De concordantia catholica› (zur katholischen Konkordanz) mit dem Aufdecken fundierter historischer Ungereimtheiten so starke Zweifel an der Echtheit des Dokuments, dass die Kirche sich bloß mit an den Haaren herbeigezogenen Argumenten und weiteren dreisten Lügen vorerst retten konnte — oder wenigstens glaubte, sich gerettet zu haben. Nur sieben Jahre später, 1440, brachte der italienische Humanist Lorenzo Valla den endgültigen Beweis des Falsifikats, und das ist, was uns hier interessiert. 

Lorenzo Valla (1406 bis 1457) gilt als Begründer der modernen Textkritik. Er zeigte mit sprachlichen Argumenten auf, dass das Latein der angeblichen konstantinischen Urkunde mehrere Merkmale aufweist, die über jeden erdenklichen Zweifel erhaben eine Entstehung im frühen 4. Jahrhundert vollkommen ausschließen, weil im Text grammatikalische und lexikalische Elemente verwendet werden, die sich nachweislich erst in späteren Jahrhunderten entwickelt haben. Die äußerst minuziöse und akkurate linguistische Untersuchung Vallas erlaubt die Datierung des Dokuments sehr präzis auf den Anfang des 9. Jahrhunderts, was moderne wissenschaftliche, vor allem physikalische Datierungsverfahren auch mehrfach bestätigen.

Zwei Beispiele nur für Vallas linguistische Beweisführung: 1. Die bereits oben erwähnte und in der Schrift enthaltene Formulierung ‹usque in finem saeculi› (bis zum Ende des Jahrhunderts) ist erstens unklar, zweitens durch die Verwendung der überflüssigen Präposition ‹in›, wie später im Vulgärlatein immer üblicher, ist nicht Latein des 4. Jahrhunderts. Eine zeitgemäße Formulierung wäre beispielweise ‹usque ad consummationem saeculorum›. — 2. In der Urkunde wird der Name der Stadt ‹Constantinopolis› erwähnt, obwohl die Stadt zur angeblichen Ausstellungszeit (315/317) noch entweder auf Griechisch ‹Βυζάντιον› [Byzántion], latinisiert ‹Byzantium› oder auf Lateinisch ‹Nova Roma› und auf Griechisch ‹Νέα Ῥώμη› [Nea Rhōmē] (Neues Rom) genannt wurde. Erst einige Jahre nach dem Tod Kaiser Konstantins, nämlich 337 wurde vorgeschlagen, ihm zu Ehren die Stadt offiziell in ‹Constantinopolis› umzubenennen, und ‹Κωνσταντινούπολις› [Konstantinúpolis] auf Griechisch.

Lorenzo Vallas Beweise waren so erdrückend und unanfechtbar, dass die Kirche rund hundert Jahre später, was für die Kirche gewissermaßen unverzüglich ist, auch zugab, die Christenheit und die Menschheit mittels der schändlichen Fälschung betrogen und belogen zu haben! Allerdings war sie auch dann nicht bereit, selbst auf das Geringste von allem dadurch unrechtmäßig Ergaunertem zu verzichten.

‹Linguistische Amuse-Bouche›, ISBN-13: 9783754382622, 35 €

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