Gau und Supergau

Alberigo Tuccillo Gesellschaft, Wissenschaft

Als das Kernkraftwerk Gösgen auf dem Gebiet der Gemeinde Däniken im Schweizer Kanton Solothurn gebaut wurde, war ich auf dem Gymnasium der Kantonsschule Aarau, wo einst Albert Einstein, wenngleich nur für kurze Zeit, die Schulbank gedrückt hatte. Dass der größte Physiker des Jahrhunderts und einer der größten aller Zeiten sowohl dieselbe Schule besucht hatte, in der ich mich auf meine Maturitätsprüfung vorbereitete, als auch indirekt die Voraussetzungen zur Nutzung der Kernenergie erschaffen hatte, war wohl nicht mehr als ein amüsanter Zufall. Doch die Bauherrin und spätere Betreiberin des Kraftwerks, die ‹Kernkraftwerk Gösgen-Däniken AG›, schien sehr daran interessiert, uns Kantonsschüler von den Vorzügen und von der Sicherheit der Kernenergie zu überzeugen.

Die ‹KKW Gösgen AG› hatte auf dem Baugelände ein vornehmes Pavillon errichtet, in dem in geschmackvoll eingerichteten Ausstellungsräumen mit trefflichen Grafiken alles  Wissenswerte über Kernspaltung, über Uranvorkommen, -gewinnung, -anreicherung und -transport, über die Funktionsweise des Reaktors, über die Funktion des Kühlturms, über die Umwandlung von thermischer in elektrische Energie, Prognosen über den wachsenden Energiebedarf in der Schweiz und in Europa, über Zwischen- und Endlagerung nuklearer Abfälle, über Sicherheitsvorkehrungen und vieles mehr erklärt wurde. In dem Pavillon gab es auch eine exquisite Cafeteria und mindestens einen luxuriösen Vortragsraum, der mit den damals besten und teuersten Präsentationsgeräten ausgestattet war.

Ich weiß nicht, ob unsere ganze Schule von der ‹KKW Gösgen AG› eingeladen wurde, jedenfalls besuchte meine Klasse — es muss im Sommer 1974 gewesen sein — in Begleitung unseres Physiklehrers und unter der Führung eines sehr eloquenten, humorvollen und äußerst sympathischen deutschen Ingenieurs die Baustelle und einen brillanten Vortrag im besagten Pavillon. Wir Schüler (es ist keine Missachtung der geschlechtergerechten Formulierung, wenn ich nur die männliche Form verwende, denn wir waren in der Tat eine reine Männerklasse) waren nicht gewöhnt, so respektvoll und nicht bloß als Erwachsene, sondern zugleich als angehende Akademiker behandelt zu werden. Wir wurden mit Informationsbroschüren eingedeckt, wir wurden mit köstlichen Speisen und Getränken verwöhnt und jede Frage, auch die kritischste, die meine Klassenkameraden dem wortgewaltigen Ingenieur stellten, wurde ernstgenommen und umgehend mit absolutem Sachverstand beantwortet.

Ob ich selbst irgendwelche Fragen stellte, kann ich mich nicht mehr erinnern. Wie ich mich als etwas eitlen Gymnasiasten in Erinnerung habe, ist es eher unwahrscheinlich, dass ich die ganze Zeit bloß zuhörte und die Gelegenheit ungenutzt verstreichen ließ, mir eine geistreiche Frage auszudenken. Was hingegen in meinem Gedächtnis eingeätzt blieb, war ein Statement meines Klassenkameraden, der Jahre später Professor für experimentelle Elementarteilchenphysik und mein lieber Schwager werden sollte. Sein Votum, das ohne Replik blieb, wurde — nicht dem Plan und dem Interesse des Veranstalters entsprechend — zum Schlusswort. Mein Freund und Banknachbar bemerkte nämlich mit entwaffnender Stringenz: «Sie und Hunderte von Wissenschaftlern auf der ganzen Welt haben sich unglaublich viel überlegt, haben sich Szenarien ausgedacht und selbst sehr unwahrscheinliche Ereignisse nicht außer Acht gelassen. Zu jedem Störfall haben Sie sehr einleuchtende Gegenmaßnahmen präsentiert. Sie haben uns Bedenken zerstreut, die wir vorher gar nicht hatten, weil wir uns nicht annähernd so viel überlegt hatten wie Sie. Was jetzt noch Angst machen kann und wird, ist das, woran weder Sie noch andere Wissenschaftler bisher gedacht haben.»

In jenem Vortrag hörte ich zum ersten Mal das Akronym GAU, größter anzunehmender Unfall, der schlimmste denkbare Störfall beim Betrieb eines Atomkraftwerkes, für den die Sicherheitssysteme der Anlage ausgelegt sein müssen. Ein paar Jahre später, 1979, kam es in den USA, in ‹Three Mile Island›, zu einem Störfall, der dann auch zum ersten Mal als GAU bezeichnet wurde. Und 1986 kam es in Tschernobyl in der heutigen Ukraine zu einer Reaktorkatastrophe, die nicht mehr beherrschbar war und welche die gesamte nördliche Halbkugel des Planeten in arge Mitleidenschaft zog — da sprach man von einem Super-GAU.

Angesicht des Schreckens und der berechtigten Angst, vor der damals die ganze Welt jäh und einem Flächenbrand gleich ergriffen wurde, ist es nachvollziehbar und verständlich, dass man wie aus einem Mund monieren wollte: «Der GAU ist nicht das realitätsferne Gedankenspiel, das ihr uns vorge-GAU-kelt habt! — Es ist tatsächlich passiert! Der GAU, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht hätte eintreten dürfen, ist eingetreten!» Und als sieben Jahre später die Katastrophe in der Sowjetunion, der antagonistischen Supermacht zu den USA, sogar ein noch entsetzlicheres Ausmaß erreichte und die völlige Untauglichkeit aller Vorkehrungen und Maßnahmen entlarvte, die man sich ausgedacht hatte, reichte der bereits verwendetet Begriff des GAU nicht mehr aus, um das Grauen, die Fassungslosigkeit und die Wut auszudrücken! Folgerichtig musste man zu etwa noch Gewaltigerem greifen: Da gab es nur noch den Super-GAU.

Auch wenn 2011 von einigen für die Katastrophe von Fukushima in Japan der Begriff Hyper-GAU vorgeschlagen wurde, wird nun mit tragischer Ernüchterung deutlich, dass alle Versuche scheitern müssen, den Horror vor der drohenden Apokalypse mit vermeintlich wuchtigeren Begriffen Ausdruck zu verleihen — zumal sie völlig falsch sind!

Es ist nicht einzusehen, warum das griechische ‹Hyper› eine Steigerung gegenüber dem Lateinischen ‹Super› darstellen sollte, wenn es sich beim ersten doch um die genaue Übersetzung des zweiten ohne jeden Deutungs- und Spielraum handelt. Viel wichtiger ist aber, dass sowohl der Begriff ‹Super-GAU› als auch der Begriff ‹Hyper-GAU› sprachlich barer Unsinn ist. Es gibt schlicht keinen größeren Störfall, keine größere nukleare Katastrophe als einen größten anzunehmenden Störfall beziehungsweise als die größte anzunehmende Katastrophe! Und wenn ein realer, tatsächlich eingetretener Unfall größer und schlimmer ist als der größte und schlimmsten Unfall, den man vorher angenommen hatte, bedeutet dies nichts anderes — erinnern wir uns an das Votum meines Mitschülers am Ende des Propaganda-Vortrags im solothurnischen Däniken 1974! —, als dass man vergessen, versäumt, verschlampt, verbummelt hatte, unfähig, inkompetent, nicht in der Lage war, das im Voraus anzunehmen, wovon sich im Nachhinein herausstellt, dass man es hätte annehmen müssen.

Einen GAU hat es noch gar nie gegeben, denn jeder Störfall, der sich wirklich ereignet, hat schon allein durch die Tatsache, dass er eintritt, eine Wahrscheinlichkeit, die größer ist als Null, und müsste folglich, angenommen werden. Einen Tsunami gigantischen Ausmaßes, der Fukushima flutet und vier Kernkraftwerke verheert, kann man zugegebenermaßen bei aller wissenschaftlichen Kompetenz nicht voraussehen. Aber ‹annehmen› bedeutet auch nicht ‹voraussagen›, ‹annehmen› bedeutet ‹nicht ausschließen können›. Und aufgrund welcher Überlegung möchte man denn weitere und mächtigere Tsunami ausschließen? Erdbeben und Vulkanausbrüche? Meteoriteneinschläge und durchgeknallte Diktatoren, die im Besitz von Waffen sind, die ein Vielfaches des Vernichtungspotentials der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki aufweisen? — Ich will nicht den Teufel an die Wand malen! Der Teufel an der Wand ist bereits mit dem Begriff GAU gemalt: Der größte anzunehmende Unfall! Wenn das nicht der Teufel ist!

Selbstverständlich hatten Befürworter der Kernenergie und direkt oder indirekt am Betrieb von Kernkraftwerken Interessierte nichts gegen die Verwendung der Euphemismen GAU, Super-GAU und Hyper-GAU einzuwenden! Vielleicht haben sie den inflationären Missbrauch dieser Worthülsen sogar geschürt, denn dann konnten sie sich auf den Standpunkt stellen: «Alles halb so schlimm! Wir hatten GAU, Super-GAU und Hyper-GAU. Angenehm war’s nicht und es hat uns eine Menge Geld gekostet. Aber wir haben’s überlebt und werden auch den Hyper-Super-GAU überleben.» Zugeben zu müssen, dass der ‹größte anzunehmende Unfall› genau das meint und hoffentlich niemals wirklich bedeuten wird, was die drei Wörter buchstäblich beschreiben, könnte sich ja auf die Aktien-Märkte negativ und — noch schlimmer! — auf die Politik positiv auswirken.