Gene, Genies und Generäle

Alberigo TuccilloSprache 2 Kommentare

Was der inzwischen abgestürzte schnucklige Mars-Flugroboter ‹Ingenuity› mit ‹Ingenieuren› zu tun hat, kann man wohl erahnen, ebenso kann man ohne arge Bosheit einen Zusammenhang zwischen gewissen ‹Generälen› und einem ‹Genozid› sehen, zwischen der Band ‹Genesis› und dem gleichnamigen Ersten Buch Mose, zwischen ‹Östrogen› oder ‹Gestagen› und einem ‹Generikum›, auch die ‹Generation› und die ‹Genetik› gehen fast Hand in Hand, beim ‹Gendern› und den ‹Genitalien› wird’s jedoch schon ein bisschen schwieriger, erst recht beim ‹Genitiv› und einem ‹Generator›, und wer nicht ‹fotogen› ist, muss nicht gleich ‹pathogen› sein. Nicht alles, was ‹genuin› ist, ist auch ‹genial›, gehört man einem nachteiligen ‹Genotyp› an, hilft auch ‹Kollagen› nicht, und vieles, was einmal ‹degeneriert› ist, lässt sich nicht mehr ‹regenerieren›. Man braucht gewiss keine Halogen-Scheinwerfer, um in der Wortlandschaft neben Parthenogenese und dem lieben Eugen unzählige weitere Begriffe zu erspähen, die generell in diese kuriose Liste aufzunehmen sind, doch was um alles in der Welt haben diese völlig verschiedenartigen Wörter und alle ihre hier nicht erwähnten Ableitungen gemeinsam? Was bringt etwas Homogenes in die bizarre Heterogenität?

Erstaunen wird es kaum jemanden — schon gar nicht diejenigen, die diesen Blog verfolgen —, dass alle diese Wörter aus dem Griechischen abgeleitet und mehrheitlich Neuschöpfungen aus griechischen Wortelementen sind. Erstaunlich ist vielleicht höchstens, dass die Silbe ‹gen› in all diesen Begriffen letztlich auf das Verb ‹γίγνομαι › [gígnomai] (ich werde geboren) zurückgehen.

An dieser Stelle muss eine Zwischenbemerkung eingeflochten werden: In den germanischen Sprachen gibt es zwar ein aktives Verb für das Beenden des Lebens, nämlich ‹sterben›, aber keines für das Beginnen. Da müssen wir uns mit der Passiv-Form der mütterlichen Aktivität behelfen: sie gebiert und das Kind wird geboren. Griechisch, wie bereits gesagt, Lateinisch (nascere), Italienisch (nascere), Französisch (naître), Spanisch (nacer) verfügen über ein aktives Verb, das im Geburtsvorgang die «Tätigkeit» des Kindes bezeichnet, ohne auf das Passiv zurückgreifen zu müssen. Diese Aktiv-Form wird denn nicht allein für das eigentliche Geboren-Werden eines Menschen im Kreißsaal oder eines Tieres im Stall, auf der Weide oder in der Wildnis verwendet: In diesen Sprachen werden durch übliche und nicht poetische Verwendung dieses Verbs auch Ideen geboren, ebenso Projekte, Beziehungen, Institutionen, Moden, Kunstwerke, Betriebe, ganz profane Produkte, Epochen, Städte, Länder, Schwierigkeiten, Streitigkeiten und sogar Kriege. So hat das Verb über die ursprüngliche physiologische Bedeutung des ‹geboren Werdens› hinaus auch die Bedeutung von ‹erzeugen, erschaffen, hervorbringen, generieren›.

Aus ‹γίγνομαι › [gígnomai] (ich werde geboren) leiten sich denn auf Griechisch auch die Begriffe ‹γένος› [gènos] (Art, Gattung, Stamm) und ‹γένεσις› [gènesis] (Ursprung) ab. Daraus entstand das lateinische Verb ‹gignere› (erzeugen) und das dazugehörige Partizip beziehungsweise dessen Substantivierung ‹genus› (erzeugt) und ‹Genus› (Art, Gattung, Stamm; auch grammatikalisches Geschlecht — im Gegensatz zu ‹Sexus›, was das biologische Geschlecht meint).

Alle aufgelisteten Wörter hier vollständig zu sezieren und zu erklären, wäre für normale Menschen ohne Etymologie-Neurose vermutlich etwas langweilig, aber ein paar wenige kann ich jetzt — so hoffe ich wenigstens — doch zumuten. (Selbstverständlich kann man die Erklärungen auch einfach überspringen):

Halogen zum Beispiel setzt sich zusammen aus ‹ἅλς› [háls] (Salz) und ‹γίγνομαι › [gínomai] (ich erschaffe), also: ‹ich mache Salz›; Halogene sind Fluor, Chlor, Jod, also sehr reaktive Nichtmetalle, die mit Metallen wie Natrium, Kalium, Kalzium sofort reagieren und Salze bilden (beispielsweise Natriumchlorid = Kochsalz). Die ‹Genetik› ist die Wissenschaft, die sich mit der Weise beschäftigt, wie bestimmte Merkmale von Organismen an die nächste ‹Generation› weitergegeben und in ihr hervorgebracht werden. Wer ‹fotogen› ist, erzeugt beim fotografiert Werden schöne Bilder, und ‹Kollagen› ist ein Protein, das in menschlichen und tierischen Geweben vorkommt und bis vor wenigen Jahrzehnten noch verwendet wurde, um Leim (colla = Leim) herzustellen; Fischleim, Knochenleim. — Vielleicht heißt unter den Leserinnen und Lesern jemand ‹Eugen› oder ‹Eugenie› oder kennt jemanden, der oder die so heißt: ‹εὖ› [eu] (gut, richtig, schön), also ist der Eugen der ‹gut Erschaffene›, der ‹wohl Geratene› oder ‹schön Gestaltete›.

Ich glaube, dass dies fürs Erste genügt. Wer doch noch die vollständige Etymologie eines bestimmten Wortes oder mehrerer bestimmter Wörter aus der Liste wünscht, kann den Wunsch natürlich im Kommentarfeld anbringen und wird umgehend Antwort bekommen.

Die Sache geht aber noch weiter (und wird noch erstaunlicher): Das griechische ‹γένος› [gènos] und das lateinische ‹gignere› gehen selbstredend ihrerseits auf eine noch viel ältere Wurzel zurück, nämlich auf das protoindoeuropäische ‹*g̑en(ə)-› (gebären, erzeugen)! Daraus ist beispielsweise das altlateinische ‹gnatus› und das klassisch lateinische ‹natus› (geboren) entstanden, daraus dann ‹nativ›, ‹Nativität›, Italienisch ‹natale›, Französisch ‹noël›, ‹Nation›, ‹Natur›, sowohl im Sinne von ‹Flora und Fauna›, von ‹Ökosystemen, Wäldern, Flüssen, Seen…› als auch von ‹Wesen, Charakteristik, Beschaffenheit…›. Das Lateinische ‹prä-gnans› setzt sich zusammen aus ‹vor› und ‹geboren werden›, bedeutet also ‹schwanger› (‹pregnant› ist auch im modernen Englisch das Wort für ‹schwanger›). Deutsch hat das Wort ‹prägnant› hingegen die ursprüngliche konkrete Bedeutung verloren und nur die metaphorische bewahrt: ‹gehaltvoll und einprägsam› (etwa von einer Aussage, einem Aphorismus, einer Eselsbrücke).

Und richtig interessant ist die Entwicklung des indoeuropäischen ‹*g̑en(ə)- dann im Germanischen: ‹*génþa (gezeugt, geboren) hat dieselbe Bedeutung wie im Altgriechischen, doch daraus wird dann Althochdeutsch ‹ghind, Mittelhochdeutsch ‹kint, Neuhochdeutsch ‹Kind›; gleichzeitig Englisch ‹kind› (Art, Gattung).

Eine protoindoeuropäische Sprachmutter hat vor 7500 Jahren nicht bloß eine Myriade von Kindern geboren, sie hat sie auch gesäugt, großgezogen, in die Mündigkeit entlassen und mit tausend verschiedenen Botschaften über den Globus ausgesandt.

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      (morior) «sterben» ist das, was derjenige tut, dessen Leben zu Ende geht. (occido) «töten» ist das, was derjenige tut, der das Leben des anderen beendet. — Analog dazu ist (pario) «gebären» das, was diejenige tut, die einem anderen das Leben gibt, und (nescio) das, was derjenige tut, der ins Leben tritt. Weil in den germanischen Sprachen das entsprechende Verb zu ‹nescio› fehlt, muss man sich mit der Passiv-Form des Verbs für die mütterliche Handlung behelfen: das Kind WIRD geboren.

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