In Basel gibt es eine schmale Gasse, die aus einer Steintreppe mit neunundsechzig Stufen besteht und sich vom unteren Münsterberg nahe der Basler Schifflände am Rhein über den Martinskirchplatz bis hinauf zur Martinskirche zieht und den so rätselhaften wie entzückenden Namen ‹Elftausend-Jungfern-Gässlein› trägt. Die bereits 1352 gepflasterte und mit Steinstufen versehene Gasse hatte im Laufe der Zeit verschiedene Namen: ‹Stegen zur linchen Hand›, ‹St.-Martins-Stegen› oder ‹Am Sprung zur Rhinbruck›. Der Legende nach verdankt das Gässlein seinen endgültigen Namen dem tragischen Tod von elftausend jungen Frauen. Die englische Königstochter und Schutzpatronin der Jugend, die Heilige Ursula, sei mit den frommen Jungfrauen auf einer Pilgerreise nach Rom gewesen, habe in Basel Halt gemacht und sei betend zur St.-Martins-Kirche die Treppe hinaufgestiegen. Ein Hunnenfürst soll sich in die Königstochter augenblicklich verliebt und ihr angeboten haben, ihr Leben zu verschonen, wenn sie ihn heiraten würde. Ursula lehnte ab und wurde zusammen mit allen elftausend Jungfern hingerichtet.
Das Wort ‹Faraglioni› (Plural von ‹faraglione›) — die kegel- bis nadelförmigen Felsen, die unter anderem vor der Insel Capri im Golf von Neapel aus dem Meer ragen — kommt aus dem Griechischen ‹ϕάρος› [Pháros], einer kleinen Insel vor dem Hafen von Alexandria in Ägypten, auf der bereits im dritten Jahrhundert vor Christus ein mächtiger Leuchtturm errichtet wurde, wodurch das Wort Pharos zum Begriff für Leuchttürme überhaupt wurde. Auf den Faraglioni gibt es jedoch keine Leuchttürme. Sie sind klein, unbewohnt, nicht ungefährlich für kleinere Boote wie etwa die Kutter der Fischer und sehr beliebte Sujets für Erinnerungsfotos von Touristen. — Wie für das Basler Treppen-Gässlein hat man sich auch für die Faraglioni von Capri eine Erklärung aus der Sagenwelt geholt: Die meisten kennen wohl die Episode mit ‹Πολύφημος› [Polýphēmos] (der Vielgerühmte), dem Kyklopen, dem einäugigen Riesen aus Homers Odyssee. Odysseus kommt auf seiner Heimkehr von Troja nach Ithaka, als Strafe der Götter für seine List mit dem trojanischen Pferd, immer wieder vom Kurs ab und wird mit seinem Schiff und seinen Männern an merkwürdige Orte gespült. Eines dieser Orte ist Polyphems Insel. Der einäugige Riese ist zornig, weil die Griechen mit seinen Vorräten ihren Hunger gestillt haben. Nun will er sie fressen, was ihm jedoch nicht gelingt, weil sich die im Vergleich kleinen Menschen gut in Nischen und Felsspalten verstecken können. Polyphem fragt, wer von den Griechen der Anführer sei und wie er heiße. Odysseus gibt sich als Anführer zu erkennen und sagt, sein Name sei ‹Niemand› (‹Οὔτις ἐμοί γ‘ ὄνομα› = ich heiße Niemand) — Griechisch ‹Οὔτις› [Utis], Lateinisch ‹Nemo› (niemand). Später geben die griechischen Seefahrer dem Kyklopen ihren ganzen Weinvorrat zu trinken, worauf der Riese betrunken einschläft. Die Griechen nehmen einen angesengten spitzen Balken aus dem Feuer und rammen ihm diesen ins Auge. Der nunmehr blinde Kyklop brüllt mit donnernder Stimme übers Meer zu den Nachbarinseln, wo andere Kyklopen wohnen: «Brüder, eilt mir zu Hilfe! Man hat mich geblendet!» — «Wer hat dich geblendet?», fragen die anderen Kyklopen, und er sagt: «Niemand hat mich geblendet!» — Worauf die Kyklopen logischerweise denken, dass Polyphem einfach nur besoffen ist, und ihm raten, erst einmal seinen Rausch auszuschlafen. — Die Griechen rennen nun davon, erreichen ihr Schiff und setzen das Segel. Polyphem schleudert Felsbrocken nach ihnen, ohne damit allerdings das Schiff zu treffen, weil er ja blind ist und nicht zielen kann. — Die im Meer verstreuten Felsen, so will es die Volkssage und die Narrativität der Reiseführer, seien die Spuren von des Kyklopen Wutausbruch.
Ich habe aus naheliegenden Gründen ein Beispiel aus Basel und eines aus Neapel beschrieben, aber es gibt fast überall auf der Welt solche Geschichten, die man Fremden, oft augenzwinkernd, aber manchmal auch ganz im Ernst, jedenfalls stets sehr gerne erzählt und dabei meint oder wenigstens so tut, als verrate man ein intimes Geheimnis: Da hat der Teufel eine schwindelerregende, ätherisch filigrane Steinbrücke über eine tiefe Schlucht gebaut, dort hat ein Einsiedler während einer entsetzlichen Dürre mit einem Spatenhieb eine wundersame Quelle aus einem Felsen sprudeln lassen, an einem andern Ort hat ein schmächtiger Jüngling mit einer List, aber völlig allein ein ganzes Heer von Invasoren in die Flucht geschlagen, anderswo hat eine Wölfin ausgesetzte Zwillinge gerettet, gesäugt und aufgezogen, von denen einer dann eine mächtige Stadt gegründet hat.
Bei Fremdenführern sehr beliebt sind auch Legenden um die Entstehung von traditionellen Speisen wie die der französischen Spezialität ‹Coq au Vin›. Kein geringerer als Julius Caesar persönlich soll das Schmorgericht in Frankreich — damals selbstverständlich noch Gallien — eingeführt haben. Wie die vielzitierte (und höchst unwahrscheinliche) Geschichte schildert, schickten die keltischen Gallier während der römischen Besatzung Caesar einen Hahn. Er ließ das Tier von seinem Koch in Kräutern und römischem Wein schmoren und soll es dann den Galliern zurückgegeben haben. — Auch die spanische ‹Paella› wird in der Tourismus-Branche gern als Brauch aus dem 8. Jahrhundert verkauft. Maurischen Könige, die damals große Teile Spaniens beherrschten, hätten nach ihrer Mahlzeit regelmäßig Reste von Hähnchen, Reis oder Gemüse übriggelassen, die dann von ihren Dienern jeweils mit nach Hause genommen, aufgewärmt und verzehrt worden seien. Merkwürdig ist, dass der Begriff ‹paella› erst seit 1892 — und zwar zunächst im Katalanischen und nicht im Kastilischen — belegt ist! Das Wort stammt aus dem Lateinischen ‹patella›, was metallene Servier- oder Backplatte oder flache Pfanne bedeutet. — Ein weiteres Beispiel ist die angebliche Entstehung des Mailänder ‹Panettone›. Sein Ursprung gehe auf das Jahr 1495 zurück. Während eines Weihnachtsbanketts des Herzogs von Mailand war der Nachtisch vom Küchenchef ungeschickterweise verbrannt worden. Ein junger Koch namens Toni (der musste natürlich so heißen, damit die Geschichte ihre Pointe bekommt, auch wenn es im 15. Jahrhundert in der Lombardei bestimmt nicht viele mit einem solchen Vornamen gab) reagierte schnell und bot sein selbst kreiertes Brot, gefüllt mit Rosinen und kandierten Früchten als Ersatz an. Fortan habe der Herzog an Weihnachten immer ‹i pani di Toni› essen wollen, die dann bald zu ‹pani-Toni›, schließlich zu ‹panettoni› verkürzt wurden. Bemerkenswert ist, dass die erste Erwähnung des Panettone, die diese vage mit Weihnachten in Zusammenhang bringt, auf das Jahr 1792 zurückgeht.
Solche Stories sind amüsant und unterhaltsam und werden auch aus keinem anderen Grund erzählt, als um zu amüsieren und zu unterhalten. Glauben tut diese Geschichten kaum jemand wirklich. Anders verhält es sich mit den an den Haaren herbeigezogenen Geschichten, wenn diese die Etymologie betreffen. Da wird schon fast jedes Hirngespinst als bare Münze genommen oder zumindest als ‹Theorie› bezeichnet!
Drum sage ich es hier in aller Deutlichkeit: Nein! Der Name der Stadt ‹Basel› leitet sich nicht vom Basilisken ab, auch wenn der Drache überall in Basel als Verzierung von Brunnen, in architektonischen Elementen und während der Fasnacht auf Laternen zu sehen ist! ‹Basel› dürfte eine elliptische Bildung aus einer ursprünglichen Ortsbezeichnung vom Typus ‹Villa Basilis› (Ort eines Mannes namens Basilius) sein. Eine Handschrift der Diözese Basel, deren Alter unbekannt ist und die lediglich auf ‹vor 1461› datiert wird, erwähnt den Namen ‹Basel› in einem Bericht über Ereignisse, die sich in den Jahren 237/238 abgespielt haben sollen (Basileam applicuerunt). Daraus kann allerdings nicht geschlossen werden, dass der Name um 237 bereits in Gebrauch war. — Der bereits in der Antike bekannte Basilisk ist ein mythisches Tier, das erst im Spätmittelalter und in der Neuzeit (und nur in Basel) mit Basel in Zusammenhang gebracht wird. — Insofern gehen wenigstens der unbekannte namengebende Römer Basilius und das Fabelwesen, zwar zufällig, aber doch etymologisch auf das Griechische ‹βασιλίσϰος› [basilískos] (kleiner König) zurück.
Kommentare 3
Die fantastischen Geschichten sind wohl auf der ganzen Welt zu finden. Und wie du bemerkst in fast allen Fremdenführer zu finden. Es ist eben wie das Salz in der Suppe….
Das erinnert mich sehr an meinen Grossvater, der ebenfalls ein phantastischer Geschichtenerzähler war. Wir Enkel fragten ihn eines Tages, warum er eine so grosse Nase habe. Er erklärte uns, dass er an dem Tag, an welchem Gott die Nasen verteilte, dies leider verpasst habe, da er sich ausgerechnet zu dieser Zeit ein paar feine Biere im Hirschen genehmigt hätte. Als er nun endlich beim lieben Gott aufgetaucht sei, habe dieser keine Nasen mehr übrig gehabt. Deshalb habe er statt einer Nase die grosse Schachtel bekommen, in welcher die Nasen zuvor gelegen hatten.
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Geschichtenerzähler und Geschichtenerzählerinnen schulden ihre Begabung meistens außergewöhnlichen Großvätern. Ich hatte auch einen wunderbaren Großvater, den Vater meiner Mutter, dem ich heute noch gern jeden Tag stundenlang zuhören möchte. Da er leider nicht mehr lebt, muss ich nun die Geschichten selbst erzählen… oder dich und Fredy demnächst zum Essen einladen.
Danke dafür, Sabina, dass du meine Einträge oft hier kommentierst! Abgesehen davon, dass es mich jedesmal riesig freut, bringt jeder Kommentar meinen Blog im Google-Ranking etwas nach oben!