Geschichten im Netz
Aus «Geschichten ohne festen Wohnsitz»
Lindas Energie
Damit hatte Linda nicht gerechnet, und auch ihr Meister hatte es offenbar nicht vorausgesehen, aber plötzlich stand der Mann vom Elektrizitätswerk vor der Tür und wollte den Zählerstand ablesen.
«Macht mir gar nichts aus», sagte dieser, als sie meinte, sie könne ihn wegen der schrecklichen Unordnung nicht in den Keller lassen, «es dauert bloß eine Minute. Ich übertrage die Ziffern ins Register und verschwinde dann sofort wieder.»
Aber sie stellte sich ihm in den Weg, fühlte kalten Schweiß auf der Stirn und ihre Stimme beben. Das Haus sei voll von negativer Energie, stammelte sie, das habe auch ihr Meister am Telefon bestätigt. Da hätten selbst die Kristalle und die Kupferplättchen kaum etwas genützt, die sie auf dessen Anraten überall angebracht habe.
«Negative Energie gibt es nicht», sagte der Stromableser, dem ein stechender und dennoch widerlich süßer Geruch von Räucherstäbchen in die Nase stieg. Und indem er lachend an Linda vorbei auf die Kellertür zuging, fügte er hinzu: «Negative Energie ist bloß fehlende Energie. Aber Energie, die da ist, ist immer positiv.»
Es sei nicht lange her, dass sie in das Haus gezogen seien, stotterte Linda, weg von der Stadt, wie der Meister es wünschte, weg von der alten negativen Wohnung im Bahnhofsquartier. Aber bald hätten sie es gemerkt, ihr Meister und sie, dass es Franco war, ihr Mann, der die negative Energie ausstrahlte. Franco habe die ganze Energielehre immerzu einen Humbug und ihren Meister einen Scharlatan genannt. Dann seien sie ihm, Franco, jedoch auf die Schliche gekommen und hätten gemerkt, dass er sie vergiften wollte. Natürlich liege die schreckliche Negativität im Haus und überall im Moment auch am Jupiter, aber die schlimmste Strahlung gehe immer von Menschen aus, und bei Franco… ja bei Franco, der den Skorpion im Aszendenten hatte, bei ihm habe das Pendel immer im Gegenuhrzeigersinn ausgeschlagen. Dass er sie umbringen wollte, das stehe fest, davon sei auch der Meister überzeugt.
Jetzt roch der Stromableser keine Räucherstäbchen mehr, sondern etwas, was er nicht kannte und von dem er sich fragte, ob es Formalin sein konnte. Lindas Tirade über Energiefelder, Planetenkonjunktionen und über Francos hartnäckige Verweigerung der Wahrheit drangen immer diffuser in sein Ohr. Er suchte im fahlen Kellerlicht den Stromzähler, obwohl er ihn bereits vor der Nase hatte, blickte lange darauf, als wisse er nicht recht, welche Zahlen er abschreiben sollte, dann sagte er: «Ich glaube, Sie haben Recht mit der negativen Energie. Darf ich mal kurz telefonieren?»