Neulich fand ich eine an mich adressierte Zeitschrift in meinem Briefkasten, die ich nicht bestellt hatte, was mich ein bisschen ärgerte. Der Ärger hatte nicht unmittelbar damit zu tun, dass es sich um ein religiöses Blatt handelte, sondern ganz allgemein damit, dass ich es nicht mag, wenn man meinen Briefkasten dazu missbraucht, mir ungefragt mitzuteilen, was ich tun soll und denken soll und was nicht. Nicht, dass ich mir niemandes Meinung und Rat anhören möchte! Im Gegenteil: Ich informiere mich, überprüfe die Quellen und deren Verlässlichkeit, führe Gespräche, tausche mich aus, denke viel, eingehend, sorgfältig und grundsätzlich mit Skepsis über alles nach und bin stets daran interessiert und darauf bedacht, meine Irrtümer zu korrigieren, wenn triftige Argumente mich eines Besseren belehren. Doch wenn ich ein neues Buch lesen möchte, einen neuen Staubsauger anschaffen muss, eine Versicherung oder zur Abwechslung mal eine Religion bräuchte, weiß ich mir zu helfen. Ich weiß, wo ich für mich maßgeschneiderte Buchempfehlungen und Rezensionen suchen muss, wo Warentests und Leistungsvergleiche für Dienstleistungen zu finden sind. Ich mag es nicht, wenn man mir Probleme lösen will, die ich nicht habe, schon gar nicht, dass man sich um meine Seele im Jenseits kümmert, wenn man nicht einmal meinen ausdrücklichen Wunsch auf dem Briefkasten im Diesseits respektiert: Keine Werbung!
Als ich die Zeitschrift auf den wenigen Schritten zur Altpapier-Box flüchtig durchblätterte, bemerkte ich, dass im Blatt auch ein Artikel zu einem linguistischen Thema war. Das schwächte meine Missbilligung augenblicklich ab. Ich legte die Zeitschrift statt ins Altpapier aufs Klavier und nahm mir vor, den Artikel später zu lesen.
Das habe ich inzwischen getan. Der Groll über den briefkästlichen Übergriff ist wieder voll da. Dazu kommt nun der Ärger darüber, dass ein usurpatorischer Pseudolinguist die Unverfrorenheit besitzt, Dinge zu behaupten, an denen nicht einmal unbeabsichtigt auch bloß eine Spur Wahrheit kleben geblieben ist — und als wäre damit der Dreistigkeit nicht genug, garniert er seinen Artikel noch mit unpassenden Fachausdrücken, wohl in der Hoffnung, mit unlauteren Tricks für seinen traurigen Erguss etwas Glaubwürdigkeit zu ergaunern.
Die Kernbehauptung des Artikels ist folgende: Das Wort ‹Hölle› habe bei den germanischen Heiden die Bedeutung von Helle, von Ort des Lichts gehabt. Damit sei also eigentlich das Paradies gemeint gewesen. Die Christianisierung habe dann das heidnische und das christliche Paradies einander gegenübergestellt und willkürlich festgelegt, dass das christliche das gute und das heidnische das schlechte Jenseits sein müsse. So sei der heidnische Ort des Glücks und des Lichts, die Helle, zum Inferno (was nur ‹tiefer liegend› oder ‹Unterwelt› bedeutet), also zur Hölle geworden.
Obwohl diese Art, heidnische Bräuche, Gedanken, Rituale, Mythen und Symbole umzudeuten, einzuverleiben, zu annektieren, durchaus zum Christianisierungsprozess passt und es dafür auch unzählige Belege gibt*, ist die im Artikel behauptete Etymologie von Hölle falsch und mit Leichtigkeit zu widerlegen.
* Siehe dazu auch ‹Osternwestern›, Artikel 46 aus ‹Linguistische Amuse-Bouche›, s. 128 ff.
Das germanische Wort ‹Hölle›, Althochdeutsch ‹hella› oder ‹hellia›, Mittelhochdeutsch ‹helle›, Gotisch ‹halja›, Englisch ‹hell›, Altisländisch ‹hel›, das in früher germanischer Zeit den Aufenthalt der Toten bezeichnete, ging nach der Christianisierung der germanischen Stämme auf die christliche Vorstellung über. In der nordischen Mythologie tritt ‹hel› (das Totenreich) auch personifiziert als Namen der germanischen Todesgöttin Hel auf. Die germanische Benennung des Totenreiches gehört zu der indoeuropäischen Wurzel ‹*k̑el-› (verhüllen, verbergen, schützen) und bedeutet demnach wahrscheinlich ‹die Bergende›. — In Wortzusammensetzungen tritt Hölle als verstärkendes Präfix auf, zum Beispiel in ‹Höllenangst›, ‹Höllenlärm›, ‹Höllenschmerz›. Mit dem Wort ‹Hölle› im Sinne von ‹Ort, wo jemand oder etwas im Verborgenen wird› ist auch das niederdeutsche ‹Hellegatt› (Vorrats-, Gerätekammer auf Schiffen) etymologisch verwandt.
Vom Verb ‹hehlen›, Althochdeutsch und Altenglisch ‹helan›, Mittelhochdeutsch ‹heln›, (bedecken, verbergen, verstecken) leiten sich die Wortgruppen ab: ‹hüllen› und ‹Halle› steht. Diese gehen zusammen mit verwandten Wörtern in anderen indoeuropäischen Sprachen ebenfalls auf die genannte Wurzel ‹*k̑el-› (verhüllen, (ver)bergen, schützen) zurück. Auch in anderen indoeuropäischen Sprachen hat die Wurzel zu Wortbildungen geführt: vergleichen sich zum Beispiel Griechisch ‹καλυπτός› [kalýptos] (umhüllt, verborgen) und ‹ευκαλυπτός› [eukalýptos] (Eukalyptus), Lateinisch ‹celere›, Italienisch ‹celare› (verbergen, verstecken), was auch in ‹okkult› (verborgen) und in ‹cella› (Vorratskammer) erscheint. Aus der lateinischen Vorratskammer ‹cella› haben sich das deutsche Wort ‹Zelle›, aber auch ‹Keller› und ‹Kellner› und andere gebildet. Auch das lateinische Wort ‹color› (Farbe) leitet sich von diesem Stamm ab und meinte ursprünglich nicht das Licht einer bestimmten Wellenlänge, also rot, gelb, grün, blau, violett, sondern die schützende oder verdeckende Funktion der aufzutragenden oder bereits aufgetragenen ‹Farbe› oder Lackes. Denselben Ursprung haben auch weitere germanische Wörter, zum Beispiel: ‹Helm› (Kopfschutz), ‹Hülse› und ‹Hülle›, ‹heimlich›, ‹geheim›, ‹Geheimnis›, ‹Hehler›, ‹Hehlerei›.
Wie sieht es nun aber mit dem Adjektiv ‹hell› aus, das der unsägliche Artikel in der unsäglichen Zeitschrift zwar nicht erwähnt, weil der Autor keine Ahnung von Methode hat, es aber implizit meinen würde, wenn ihn jemand auf die Idee gebracht hätte, dass ‹Helle› und ‹Helligkeit› Substantivierungen des Adjektivs ‹hell› sind?
‹Hell›, Althochdeutsch ‹-hel› (nur in Zusammensetzungen), Mittelhochdeutsch ‹hel› (tönend, laut; licht, glänzend), leitet sich ab vom Verb ‹holen› (ursprünglich: herbeirufen, schreien). Es gehört zu der indoeuropäischen Wurzel ‹*kel(ə)-› (rufen, schreien, lärmen). Daraus auch ‹Hall›, ‹Widerhall›, ‹hallen›. Es bezog sich also zunächst ausschließlich auf akustische Eindrücke und wurde dann (5. oder 6. Jahrhundert) auch auf optische Eindrücke übertragen und als Gegensatz zu dunkel empfunden, man beachte auch ‹grell› (ursprünglich: sehr laut schreiend, kreischend), andererseits spricht man ja auch von schrillen und knalligen Farben. Ferner wird ‹hell› übertragen auch im Sinne von ‹rasch auffassend, scharfsinnig, klug› gebraucht (Beispiel: ein helles Köpfchen).
Da hier das Wort ‹hell› bloß kurz und stark zusammengefasst erläutert wird, um aufzuzeigen, dass es rein gar nichts mit der ‹Vermutung› (hier Euphemismus für ‹an den Haaren herbeigezogen›) des obengenannten Artikels zu tun hat, gebe ich hier nur noch eine nicht eingehender kommentierte Auflistung von weiteren Wörtern an, die ebenfalls auf die indoeuropäische Wurzel ‹*kel(ə)-› (rufen, schreien, lärmen) zurückgehen: ‹Schelle›, Griechisch ‹καλεῐν› [kalein] (rufen, nennen), Lateinisch ‹calare› (ausrufen, zusammenrufen), daraus: ‹Kalenden› (Monatsanfang), ‹Kalender›, ‹clarus› (laut, schallend; hell, licht, deutlich), daraus Deutsch ‹klar›, ‹klären›, ‹erklären›, ‹Klasse›, ‹Klassifizierung›, Lateinisch ‹clamare› (laut rufen, schreien), daraus Deutsch ‹Reklame›, Englisch ‹to claim› und viel mehr.
Fahren wir noch einmal zur Hölle und zurück zum höllischen Artikel, denn es wird nun eine helle Freude: Was der Text nämlich sträflicherweise zu klären versäumt, ist die Herkunft des Wortes ‹Himmel›!
Althochdeutsch ‹himil›, Mittelhochdeutsch ‹himel›, Gotisch ‹himins› leitet sich ab von der indoeuropäischen Wurzel ‹*k̑em-› und bedeutet genau wie die Hölle ‹verbergen, bedecken, verhüllen›. Freilich ist die Vorstellung, die zum deutschen Himmel führte, nicht das Verbergen der Toten und deren Seelen, sondern das die Erde gleichsam schützend überspannende Gewölbe. Dieser Gedanke stand auch Pate bei der Taufe des ‹Himmelbetts› und mancherorts nennen ältere Leute noch die Decke eines Raumes ‹Himmel›.
Trotzdem erlaube ich mir die hoffentlich harmlose Bosheit, es lustig zu finden, dass es wenigstens für die Sprachwissenschaft zwischen Himmel und Hölle keinen großen Unterschied gibt.
Weitere ähnliche Artikel in:

Alberigo Albano Tuccillo ‹Linguistische Amuse-Bouche›, ISBN 9783755735601
NEU: nur noch 30,00 EUR/CHF!
Hier bestellen: https://tuccillo.ch/kontakt/
Kommentare 2
Ein erhellender Beitrag. Danke vielmals dafür!
Author
Ich danke dir für das liebe Feedback!