Ich hân dî vast lieb

Alberigo TuccilloLyrik, Sprache 4 Kommentare

Es ist eine Binsenweisheit: das Adverb ‹fast› bedeutet ‹beinahe›, also eigentlich ‹nicht›! Wenn jemand von ‹fast immer› oder ‹fast allen› spricht, meint er nicht immer und nicht alle, und wenn er ‹fast genug› gegessen hat, hat er noch etwas Hunger und hat eben noch nicht genug gegessen. So klingt «Ich habe dich fast lieb» für uns heute wie ein vielleicht allzu ehrlicher, aber doch ziemlich ungeschickter Versuch, eine Romanze zu beginnen, oder aber wie der Entschluss, eine solche zu beenden, weil man die potenzielle Partnerin oder den potenziellen Partner zwar nicht gänzlich unsympathisch findet, dem schwachen Funken es jedoch nicht gelungen ist, ein Feuer der Verliebtheit auflodern zu lassen.

So traurig ist aber die mittelhochdeutsche Verszeile des Titels, die aus einem rührenden Liebesgedicht aus dem 13. Jahrhundert stammt, nicht gemeint, denn das Wörtchen ‹fast› hat — wie so viele andere — im Laufe der Zeit eine Bedeutungsänderung erfahren, die uns alte Texte manchmal völlig falsch deuten lässt.

Wie es heute noch in vielen Sprachen der Fall ist, unterschied man Althochdeutsch Adjektiv und Adverb. Adjektive modifizieren Substantive und Pronomina, Adverbien modifizieren Verben, Adjektive und weitere Adverbien. Beispiele: das englische Adjektiv ‹strong› wird als Adverb zu ‹strongly›; Spanisch wird ‹fuerte› zu ‹fuertemente›, Französisch ‹fort› zu ‹fortement›, Italienisch ‹forte› zu ‹fortemente› — so wurde Althochdeutsch ‹festi› (stark, fest, unerschütterlich, sehr, voll und ganz) zu ‹fasto› (mit derselben Bedeutung als Adverb).

Daraus leiten sich auch Altenglisch ‹fæste› (fest) und Englisch ‹fast› (schnell) ab. Mittelhochdeutsch wurden dann beide Formen, sowohl die adjektivische als auch die adverbiale, also ‹vest› und ‹vast›, unterschiedslos als Adverb und als Adjektiv mit derselben und ursprünglichen Bedeutung (stark, fest, unerschütterlich, sehr) verwendet. Erst ab dem späten 14. Jahrhundert begannen ‹vest› und ‹vast› einen langsamen Bedeutungswandel zu erfahren, wobei sich ‹vast› allmählich zum schieren Gegenteil mauserte und schließlich im frühen Neuhochdeutschen des ausgehenden 16. Jahrhunderts als ‹fast› die heutige Bedeutung von ‹annähernd, nahezu, beinahe› erlangte.

Der Minne-Dichter, der ‹Ich hân dî vast lieb› geschrieben hatte, wurde nicht missverstanden, denn nur wenige Verszeilen später konnte er seiner Holden die ‹süzen lipen küsen›!

Alberigo Albano Tuccillo ‹Linguistische Amuse-Bouche›, ISBN 9783755735601

Hier bestellen: https://tuccillo.ch/kontakt/ (portofrei in CH und EU!)





Kommentare 4

    1. Post
      Author

      Und ich bin schon fest süchtig nach deinen ermutigenden Feedbacks! Frohe Ostern dir und Fredy, liebe Sabina!

    1. Post
      Author

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert