Linguistische Amuse-Bouche 16 bis 20

Alberigo TuccilloGesellschaft, Sprache

Nummer 16:

Mit den Fantasien um die Arier ist es so eine Sache für sich: Die Italiener im Gefolge Mussolinis stellten sich die Arier als etwas typisch Mediterranes vor; ein Durchschnittswert zwischen Sophia Loren, Cristiano Ronaldo, Montserrat Caballé und Lucio Dalla. Die italienische Vorstellung der Arier war zwar nicht wirklich vorstellbar, aber auch nicht weniger vorstellbar als die unvorstellbare deutsche, die in einem mittelwüchsigen Pykniker von 1.75 m mit braunen Augen, mit einer Nase und mit Augenbrauen, die man sonst Semiten andichtete, und mit braunen Talgsträhnen als Haar, einen großgewachsenen blonden Athleten mit blauen Augen sah. Doch dass weder Deutsche noch Italiener offenbar wussten, was Arier eigentlich sind, lag einfach daran, dass beide versäumt hatten, die Sprachwissenschaft um Rat anzugehen: ‹Arier› bezeichnet nämlich nicht ein Volk, schon gar keine Rasse, sondern — inoffiziell und allerhöchstens — einen sozialen Rang, eine Gesellschaftsschicht, die es überall auf der Welt gab, und die überall auf der Welt, wo man eine indoeuropäische Sprache sprach, ganz ähnlich benannt wurde. 

Auf Sanskrit (Sanskrit ist vereinfachend gesagt Altindisch) bedeutet ‹arya› ‹edel, vornehm, nobel›. Im Altpersischen war ‹airian› das Land der Edlen. Es erstaunt wohl nicht, dass sie damit vor allem das eigene Land meinten und daraus ‹IRAN› machten. Im Keltischen, das ja ebenfalls eine indoeuropäische Sprachgruppe ist, gab es das Wort ‹Īweriū›, das ebenfalls ‹Land der Edlen› bedeutet, und daraus wurde ‹EIRE›, der irische Name Irlands. 

Dass zwei so unterschiedliche Länder wie Iran und Irland im Grunde denselben Namen haben, den Namen, den vielleicht einige Deutsche und Italiener dereinst gern für sich gehabt hätten, finde ich so amüsant wie… irgendwie in versöhnlicher Weise Ost und West verbindend.

Übrigens: in unserer aus dem Griechischen kommenden Wortgruppe ‹Aristokrat, aristokratisch, Aristokratie› steckt ‹άριστος› (àristos), ‹der Bessere›, was vom selben indoeuropäischen Stamm abgeleitet ist.

Nummer 17:

‹Mens sana in corpore sano› (ein gesunder Geist in einem gesunden Körper).

Von niemandem wurde dieses bekannte klassische Zitat wohl häufiger und feierlicher in den Mund genommen als von meinem Fechtlehrer am Gymnasium, einem gedankenleeren, Phrasen dreschenden Muskelpaket, Major der Schweizer Armee, der immerzu nach DUL-X® roch und seinen durchaus verständlichen Minderwertigkeitskomplex mit einem Überschuss an Dezibel in seiner Stimme, die jede Gelegenheit zum Schweigen mit verbissenem Eifer verpasste, zu kompensieren versuchte. Am liebsten hätte er wohl das Zitat als Inschrift in Granit gemeißelt über dem Eingangsportal gesehen — nicht etwa über dem Eingang der Sporthalle, sondern des Gymnasiums; besser noch: des Regierungsgebäudes des Kantons, oder noch besser: über dem Bundeshaus in Bern.

Seiner Ansicht nach war ein gesunder Körper die alleinige Voraussetzung für einen gesunden Geist, und weil er selbst auf der Stufe der Voraussetzung stecken geblieben war, konnte er sich die Existenz eines Frédéric Chopin, einer Nelly Sachs oder eines Stephen Hawking schlicht nicht vorstellen.

Die Ansicht des läppischen ‹Maître d’escrime› teilen leider nicht wenige.

Nun will ich gar nicht in Abrede stellen, dass körperliche Gesundheit und Fitness einer geistigen Aktivität förderlich sein können. Ich will auch nicht dem albernen Bonmot ‹Sport ist Mord› das Wort reden. Und schließlich geht es mir in dieser Rubrik allein um Sprache.

Was ich sagen möchte ist nur, dass man ein Zitat nie verstümmeln und sinnverzerrend aus dem Kontext reißen darf! Die eingangs erwähnte Redewendung ist ein amputiertes Teilzitat aus den ‹Satiren› des römischen Dichters Juvenal. Wörtlich heißt es in Satire 10, 356: «[…] orandum est ut sit mens sana in corpore sano. (Beten sollte man darum, dass ein gesunder Geist in einem gesunden Körper sei.)» Juvenal kritisierte als Satiriker diejenigen seiner römischen Mitbürger, die zwar körperlich so gesund waren wie Schweizer Grenadiere, sich aber mit törichten Gebeten und Fürbitten an die Götter wandten. Beten also, meint Juvenal, solle man allenfalls um geistige Gesundheit, denn an der körperlichen schien es ja nicht zu mangeln!

Nummer 18:

Heute ‹wage ich mich auf die Äste hinaus›, ich ‹begebe mich aufs Glatteis›, vielleicht ‹nehme ich den Mund zu voll›, ‹trage dick auf›, ‹lehne mich zum Fenster hinaus›… welche Wendungen könnte ich sonst noch bemühen? — Wenden wir es doch ganz ohne Wendung: Heute bin ich so dreist, eine Erklärung für eine Wendung anzuzweifeln, die uns damals als Studenten angegeben wurde.

Es geht um die einst beliebte Drohung, mit der man renitente Kinder einschüchterte: ‹Ich zeige dir, wo Bartel (oder Bartli) den Most holt›.

Zuerst die Erklärung, die man an der Uni gab (und die ich in meinen Vorlesungsnotizen gefunden habe): Die Redewendung ist jiddischen Ursprungs. Der Most holende Bartel ist keine Kurzform von Bartholomäus. Und Bartel holt auch keinen Most. Der Bartel ist ein Einbrucheisen, eine Art Brechstange. Das Wort ‹Most› ist ein altes jiddisches Wort für Geld. ‹Wo der Bartel den Most holt› ist eine gängige und gern gebrauchte Redensart, wenn man jemandem unmissverständlich klar machen will, wo’s langgeht.

Nun zu meinen Zweifeln: Zeigen wollen, wie und wo man mit der Brechstange das Geld, das einem nicht gehört, holen kann, ist die Ankündigung einer Anleitung zum Delikt. Das passt meiner Ansicht nach überhaupt nicht zum Grundmuster von jiddischen Weisheiten, Wendungen und Witzen. Typisch jiddisch ist eher das Gegenteil: Man stellt Gebot und Gesetz grundsätzlich nicht in Frage und erfindet jeweils eine geistreich-witzige Ausrede, um eine Übertretung ausnahmsweise zu entschuldigen oder sogar zu rechtfertigen. Die universitäre Erklärung passt denn auch in keiner Weise zu der Funktion der Wendung, nämlich: zur Einhaltung von Recht und Ordnung zu ermahnen.

Meine Erklärung: Mit Bartel ist Bartolo di Sassoferrato und mit ‹Most› ist das Wesentliche, das Essentielle, das Prinzipielle einer Rechtsangelegenheit (Italienisch: il succo) gemeint. — Meine Theorie mag bei erstem Hinsehen als an den Haaren herbeigezogen erscheinen, doch ich habe (meiner Meinung nach schlagende) Argumente.

Bartolo di Sassoferrato und sein Schüler Ubaldo degli Ubaldi kommentierten und bearbeiteten im 14. Jahrhundert die schier unüberblickbare Fülle an Gesetzen und Dekreten des römischen und des kanonischen Rechts für die zeitgenössische Anwendung. Zahlreiche schweizerische und deutsche Studenten besuchten die juristische Fakultät der Universität Bologna, wo Bartolo und Ubaldo lehrten, und übten dann nach ihrer Rückkehr in die schweizerischen und deutschen Städte den Beruf des Juristen, des Notars oder des Richters aus. An der Universität Basel war namentlich Bartolus stets präsent, hieß es hier doch, dass niemand Jurist sein könne, wenn er nicht ‹Bartolist› sei (nemo iurista nisi Bartolista). Der Beitritt der Universitätsstadt Basel zur Eidgenossenschaft bedeutete eine gleichzeitige Stärkung des wiederentdeckten und wissenschaftlich weiterbearbeiteten römischen Rechts auch im Gebiet der heutigen Schweiz. Ein im späten 16. Jahrhundert bezeugter Ausspruch eines Thurgauer Landrichters untermauert meine Ansicht: ‹Wir Aydgenossen fragen nicht nach dem Barthele und Baldele und andern Doctorn, wir haben sonderbare Landsbrüch und Recht.› — Es gäbe wohl weder Grund noch Anlass, sich mit Vehemenz von Bartolo und Ubaldo distanzieren zu wollen, wenn diese nicht allgemein als wegweisend und als Autoritäten angesehen worden wären. — Und nun schließlich zum Most: Auf Italienisch ist es absolut üblich, vom ‹Most› zu reden, wenn man das Wesen und das Wesentliche eine Sache meint. Wenn man über eine Angelegenheit lange debattiert hat und für eine Abstimmung oder Urteilsfindung das Wichtigste zusammenfassen will, sagt man: ‹Veniamo al succo…› (kommen wir nun zum Most…, das heißt: zum Wesentlichen).

Mir scheint es plausibler, dass ein überforderter Vater, Lehrer oder Pfarrer, gegenüber einem Lausebengel, der sich erfrecht hat, zu sagen oder zu tun, was ihm nicht gebührt, sich auf die höchste juristische Autorität beruft (oder gleich auf die Bibel und ihm die Leviten, den ‹Leviticus›, das dritte Buch Mose vorliest), als dass er ihm zeigt, wie man mit einer Brechstange zu Geld kommt.

Nummer 19:

Meine Schwester ist Apothekerin. Sie regt sich maßlos und nicht zu Unrecht auf, wenn ihr jemand sagt, er würde anderntags zu ihr in die Drogerie kommen. Es stört sie mit Fug und Recht auch, wenn in der Schweiz lebende Italiener das erfundene und falsch hergeleitete Wort ‹Apoteca› statt ‹Farmacia› verwenden. — Um Ärger zu vermeiden, falls jemand gedenkt, sich bei meinem geliebten Schwesterlein mit Medikamenten einzudecken, will ich also hier prophylaktisch die Begriffe klären:

Griechisch bedeutet ἀποϑήκη (apothéke): ‹verschließbarer Aufbewahrungsort, Lager, Magazin, Vorratskammer›. Bis ins 17. Jahrhundert war denn der Apotheker ausschließlich ein Magaziner, ein Lagerverwalter (vor allem auf Baustellen). Erst nach und nach nahm im deutschsprachigen Raum das Wort die heutige Bedeutung an und verdrängte alle andern bis Ende des 18. Jahrhunderts, also zur Zeit der Französischen Revolution. In den romanischen Sprachen jedoch erlebte das Wort eine andere Entwicklung: Französisch entstand daraus ‹Boutique›, Italienisch ‹Bottega›, Spanisch ‹Bodega›, und keine dieser Einrichtungen gibt oder gab je Medikamente heraus.

Um die Medikamentenausgabe zu bezeichnen, ging man in den romanischen Sprachen von einem anderen griechischen Wort aus: ϕαρμακεία (farmakeía) ‹die Kunst, Gifte herzustellen, Elixiere, Heilmittel, Zaubertränke›. Daraus ergaben sich Französisch ‹Pharmacie› und ‹Farmacia›, Spanisch und Italienisch homograph und bloß durch die Aussprache unterschieden. Deutsch bezeichnet ‹Pharmazie› (und ‹Pharmakologie›) die Wissenschaft und das Studium der Herstellung und Wirkung von Medikamenten.

Spannend wird es aber erst jetzt! Warum heißt die Drogerie denn so, wo man doch dort von der Nagelschere, über Putzmittel, Tee, Aufgüsse, Zahnseide, Desinfektionsmittel und Wundverbände alles schier bekommt außer eben Drogen? So auch im amerikanischen ‹Drugstore›. — Nun: Es sind die Drogen, die ihre Bedeutung und ihre Definition im Laufe der Zeit verändert haben. Das Wort Droge kommt aus dem Niederländischen ‹droog› (ausgesprochen: drōch) = ‹trocken, getrocknet›. Die niederländischen Seefahrer schrieben Fässer, Körbe und Säcke, manchmal auch Lagerräume, die getrocknete, gedörrte, weniger verderbliche, also weniger schnell und dringlich zu befördernden Waren enthielten, mit ‹droog› an. In der Drogerie verkaufte man ursprünglich genau diese Waren: getrocknete Kräuter für Aufgüsse, Süßholz, Tee, Gewürze, Duftblüten und Dufthölzer (lange Zeit auch Tabak). Putzmittel und Nagellack wurden erst später ins Sortiment aufgenommen, als sich Drogerien mit dem Verkauf von Drogen im alten Sinn nicht mehr über Wasser halten konnten, so wie die Poststellen nun Sudoku-Büchlein, Regenschirme und USB-Sticks verkaufen.

Nummer 20:

Wenn man ein bestimmtes Wort auf einer etymologischen Karte Europas anschaut, sieht man sehr oft, dass es für den Begriff, meistens aufgeteilt auf die Sprachfamilien, drei oder vier Grundstämme gibt, die sich dann in Varianten auf die einzelnen Sprachen verästeln. So zum Beispiel: Deutsch ‹Flasche›, Schwedisch ‹flaska›, Niederländisch ‹fles›, Dänisch und Norwegisch ‹flaske›, Luxemburgisch ‹Fläsch›, Italienisch ‹bottiglia›, Spanisch ‹botella›, Französisch ‹bouteille›, Englisch ‹bottle›, Polnisch ‹butelka›… — ich denke, man versteht schon, was ich sagen will. Natürlich gibt es immer ein paar wenige, die ganz aus der Reihe tanzen: Portugiesisch ‹garrafa›, Rumänisch ‹sticla›, Catalanisch ‹ampolla›, aber mit ein wenig Erfahrung bringt man auch diese ausscherende Schäfchen wieder ins Gehege.

Wie verhext sieht es aber bei der Hexe aus: Latein ‹pythonissam›, Neugriechisch ‹μάγισσα (mágissa)›, Italienisch ‹strega›, Französisch ‹sorcière›, Spanisch ‹bruja›, Englisch ‹witch›, Isländisch ‹norn›, Irish ‹cailleach›, Kroatisch ‹ragana›, Russisch ‹ведьма (vedma)›, Tschechisch ‹čarodějnice›, Rumänisch ‹vrăjitoare›… 

Und wenn man diesen merkwürdigen Wörtern nachforscht, findet man da und dort die wildesten volkstümlichen Erklärungen, stößt aber schließlich bei den wissenschaftlichen Erklärungen stets auf die abschließende Bemerkung: Etymologie nicht geklärt. 

Es sieht ganz so aus, als hätten nicht bloß Inquisitoren Begriff und Wort immer mit so einem schlechten Gewissen verwendet, dass man ihnen kein wirkliches Dasein und Verweilen in der natürlichen und lebendigen Entwicklung der Sprachen und der Sprache gewähren wollte.Der Fee, ‹fairy›, ‹fata›, ‹fada›, ‹feda›, ‹féja›, ‹feya›, ‹fe›, ‹fé›, ‹fée›… hat man Tür und Herz offenbar viel leichter geöffnet. (Vom Lateinischen ‹fatum› [Schicksal]; daraus: ‹fatal›, ‹gefeit sein›, ‹famos›, ‹infam›, ‹diffamieren›, ‹Fabel›, ‹fabulieren›…)