Nummer 41:
Das alte französische Verb ‹déporter› (an einen andern Ort bringen) hat in fast allen Sprachen zwei tiefe Spuren hinterlassen. Deportationen gab es zwar bereits in der Antike und wahrscheinlich schon in prähistorischer Zeit — man denke an die Deportation der Juden nach Babylon, dann nach Ägypten oder an die schreckliche persische Deportation von 300’000 Menschen in die neu erbaute Stadt Seleukia-Ktesiphon im Jahr 542 —, allein, das heute für das Verbrechen generell verwendete Wort gab es damals noch nicht. Die erste offiziell als solche bezeichnete Deportation ist jene von 1540, als Frankreich eine große Zahl (die genaue Zahl habe ich nicht herausfinden können) von Gefangenen — zum Teil mit ihren Familien — zwecks Besiedelung nach Kanada brachte. Eine Praxis, die in den folgenden Jahrhunderten von andern Kolonialstaaten mitsamt dem Begriff übernommen wurde.
Die zweite internationale Spur legte das Verb in seiner reflexiven Form: ‹se déporter› (wörtlich: sich selbst an einen andern Ort führen, gemeint war jedoch: sich zerstreuen, spazieren gehen, einen kleinen Ausflug machen, vielleicht mit déjeuner sur l’herbe…). Auch diese Gepflogenheit wurde mehr oder weniger überall imitiert: in Spanien als ‹deporte›, in Italien als ‹diporto›, in Großbritannien zunächst als ‹diport›, dann aber, als die reichen Briten für diese Zerstreuungsaktivitäten zahllose Spiele erfanden oder von anderen übernahmen, für deren Ausführung jedoch ganz genaue Regeln festlegten, wurde aus ‹diport› ‹sports› (anfänglich nur im Plural).
Ob Sportler und Deportierte ahnen, dass sie dieselbe etymologische Herkunft haben?
Nummer 42:
‹Anke› ist in der deutschen Schweiz kein weiblicher Vorname, sondern die Bezeichnung für Butter. ‹Butter› wird aber allgemein verstanden, von vielen, wenn nicht sogar von den meisten bevorzugt, und ich habe das Gefühl (das ist keine wissenschaftlich fundierte Aussage), dass ‹die Butter› allmählich ‹den Anken› verdrängt. — Zeit also, sich um die Herkunft dieses Wortes zu kümmern, bevor es ganz verschwindet.
Wie sieht es denn bei den Nachbarn aus? — Da gibt es auf den ersten Blick nicht viel Hilfreiches:
Mit Griechisch ‹βούτυρον (bútyron)›, Lateinisch ‹būty̆rum›, Althochdeutsch ‹butera›, Mittelhochdeutsch ‹buter›… und in modernen Sprachen: Englisch ‹butter›, Französisch ‹beurre›, Italienisch ‹burro›, herrscht vielerorts derselbe Stamm vor.
Schwedisch ‹Smör›, Dänisch und Norvegisch ‹smør›, Isländisch ‹smjör› lässt uns an ‹schmieren, fetten› denken, gibt uns aber vorerst keinen Hinweis auf den Anken. Behalten wir aber wenigstens den Gedanken im Hinterkopf.
Finnisch ‹voita›, Estnisch ‹või› und Ungarisch ‹vaj› geben uns endlich einmal eine Idee, warum man diese so unterschiedlichen Sprachen in eine Sprachfamilie fasst, aber was den Anken angeht, verhilft es uns auch nicht auf eine Spur.
Die slawischen Sprachen hängen mit ‹maslac›, ‹maslo›, ‹máslo›, ‹masło›, ‹масло›, ‹масла›… alle am selben Stamm, der nichts mit Anken zu tun hat, und die iberischen Varianten ‹manteca›, ‹manteiga› und ‹mantega› sind ungeklärten, möglicherweise arabischen Ursprungs.
Dass uns Albanisch ‹gjalpë› oder Baskisch ‹gurina› weiterhelfen könnten, haben wir ja auch gar nicht erwartet.
Aber da schau an: Rumänisch ‹unc›! Das sieht nicht schlecht aus! Und wenn man sich vor Augen — oder besser: vor Ohren — hält, dass sowohl das rumänische U als auch das schweizerische A ganz dunkel, guttural ausgesprochen werden, dann klingen ‹Anke› und ‹unc› gar nicht so verschieden. Und tatsächlich löst die rumänische Etymologie das Rätsel: ‹unc› kommt von Lateinisch ‹ungere› (ölen, schmieren, fetten), ganz wie bei den Wikingern und beim Koch aus der Muppet Show: smør!
Natürlich kommen von ‹ungere› auch das Englische ‹unguent› und das Italienische ‹unguento› (Gleitmittel), die medizinische Unktion (Einreiben, Einmassieren von fetten Salben) und die letzte Unktion (letzte Ölung bei Katholiken).
So ist mit dem einheimisch-exotischen Anken dank einer vertrauten Spur aus dem nicht sehr vertrauten Rumänien doch alles wieder in Butter und läuft wie geschmiert und geölt.
Nummer 43.1:
Und noch einmal ein zweiteiliges Amuse-Bouche:
Ja, ich weiß selbst, dass es zwischen einem Kindergarten und einem Kinderhort sehr wohl einen Unterschied gibt! Das bestreite ich ja gar nicht. Ich sage bloß, dass ‹Hort› und ‹Garten› — auf Italienisch ‹orto› und ‹giardino›, auf Spanisch ‹jardín› und ‹huerto› — sprachgeschichtlich nicht zwei verschiedene Wörter sind. Es ist ein und dasselbe Wort, das sich auf einer langen Reise durch Raum und Zeit, wie es allen Wörtern widerfährt, verändert hat. Nur hat sich dieses Wort halt an verschiedenen Orten auf eine verschiedene Weise verändert, und die so veränderten Formen sind schließlich wieder aufeinander getroffen. — Verfolgen wir diese lange märchenhafte Reise:
Es war einmal vor langer Zeit (vor achttausend Jahren) in einem fernen Land (nördlich des Kaspischen und des Schwarzen Meeres) das Volk der Protoindoeuropäer. Da sie gerade dabei waren, die nomadische Lebensweise aufzugeben und von südlichen Nachbarn aus dem heutigen Anatolien, wenngleich noch nicht die eigentliche Landwirtschaft, so doch etwas wie den Gartenbau übernommen hatten, begannen sie, um kleine Landstücke herum Umzäunungen zu errichten und nannten diese ‹jhrð›. — Komisches Wort? Nun ja, das liegt daran, dass unsere linguistischen Urmütter und Urväter die üble Angewohnheit hatten, sich stur gegen die Erfindung der Schrift zu sträuben, sodass wir darauf angewiesen sind, ihre Wörter durch linguistische Methoden zu rekonstruieren — und die Vokalisierung lässt sich eben schlecht oder gar nicht rekonstruieren. Wie man das Wort aussprach, weiß man nicht und wird es vermutlich nie wissen, aber was wir jetzt festhalten müssen, sind zwei Dinge: 1. Aus diesem Wort sind unvorstellbar viele unserer Wörter entstanden: Haus, Hecke, hegen, horten, Hose, Hülle, Hülse, Hütte, Haut, Garbe, Gürtel, Scheune, Schuh… (aber das verfolgen wir hier alles nicht, oder wenigstens nicht jetzt). 2. Schon bevor das Wort auf Wanderschaft ging, begann ‹jhrð› nicht mehr, nicht mehr nur oder nicht mehr vorwiegend die Umzäunung zu bezeichnen, sondern das Umzäunte selbst, also eigentlich einen Garten.
Als der Garten also auf die lange Reise ging, die wir im nächsten LAB verfolgen werden, war er schon das, was wir heute unter einem Garten verstehen!
Ist Sprachgeschichte nicht etwas vom Schönsten, was es überhaupt gibt? Da gibt es Wörter, die sich über Jahrhunderte fast nicht verändern, aber immer etwas anderes bezeichnen, und andere, deren Hülle sich ändert, während das Umhüllte gleich bleibt!
Nummer 43.2:
Wenn ich diese Karte meinem Professor gezeigt hätte, hätte er mich wahrscheinlich aus dem Seminar geworfen. Sie ist natürlich unzulänglich und eigentlich unzulässig. Aber wenn ich jetzt erkläre, was auf ihr nicht stimmt und warum ich es trotzdem so darstelle, kann ich sie vielleicht doch legitimieren.
Die Karte hält in der Zeit weit entfernte Migrationen nicht auseinander. So könnte man meinen, das schottische ‹garradh› sei aus dem englischen ‹garden› entstanden, wenn wohl allen klar ist, dass das Keltische schon vorher aus dem Protoindoeuropäischen dahin gekommen war. Ebenso gab es in Italien schon vor dem Latein kelto-italische Sprachen wie das Osko-Umbrische, aus denen das lateinische ‹hortus› hervorging und nicht umgekehrt. (Ob das etruskische ‹kur› zufällig so ähnlich ist, oder tatsächlich etymologisch zusammenhängt, weiß ich nicht. Darum habe ich es ganz weggelassen.) Auch der nordostdeutsche Austausch von G und J wie in ‹gut <—> jut› vollzieht sich über Jahrhunderte in beide Richtungen. Ob ‹Jarten› oder ‹Garten› älter ist, kann ich zurzeit nicht mit Sicherheit sagen. — Das Ungarische ‹kert› ist vermutlich ein spätes Lehnwort, da es im Finnischen und Estnischen nichts Ähnliches gibt.
Was die Karte meiner Meinung nach trotz allen Unzulänglichkeiten verdeutlicht, sind die beiden Wanderungen (eine von Osten nordwestwärts, dann südwärts, schließlich ostwärts im Gegenuhrzeigersinn, und eine von Osten südwärts, dann westwärts im Uhrzeigersinn). Aus ‹jhrð› wird über ‹Garten›, ‹jardin›, ‹jardín› —> ‹giardino› (Gegenuhrzeigersinn) und über ‹kert›, ‹chert›, ‹hortus› schießlich ‹orto› und ‹Hort› (Uhrzeigersinn). Im deutschsprachigen Raum treffen also ‹Garten› und ‹Hort›, in Spanien ‹jardín› und ‹huerto/huerta› und in Italien ‹orto› und ‹giardino› wieder aufeinander. (Weil Italienisch es nicht ausstehen kann, wenn zwei Wörter ganz genau dasselbe bezeichnen, ist ‹orto› der Gemüse- oder Nutzgarten und ‹giardino› der Blumen- oder Ziergarten.)
Rot habe ich in der Karte Wörter eingetragen, die in derselben Migration entstanden sind, mit der Zeit jedoch eine andere Bedeutung angenommen haben.
Nummer 44:
Aus sprachlicher Sicht gäbe es über Ostern so viel zu sagen, dass man bis Weihnachten zwei oder drei Amuse-Bouche pro Woche schreiben könnte, ohne das Thema auch nur annähernd zu erschöpfen. Da wir also das Allermeiste sowieso werden auslassen müssen, können wir ganz ausgelassen loslegen und irgendwo anfangen:
Woher kommt das Wort? — Im germanischen Frühlingsfest (21. März) wurde ‹Austro› (Altenglisch ‹Ēastre›) die Göttin der Morgenröte verehrt. Daraus wurden sowohl die deutschen als auch die englischen Wörter für ‹Osten› und ‹Ostern› (‹east› und ‹easter›) abgeleitet. Da das Frühlingsfest, wie fast überall auf der Welt, mit der Hoffnung auf ein erntereiches Jahr verbunden war, wurde es vornehmlich mit dem universellen Fruchtbarkeitssymbol zelebriert: dem Ei.
In einigen Teilen der Schweiz, etwa im Emmental, war noch im 19. Jahrhundert der Kuckuck der Eierlieferant, in Teilen von Westfalen war es der Osterfuchs, in Thüringen brachte der Storch und in Böhmen der Hahn die Eier zum Osterfest. Aber das waren bloß letzte Bastionen, denn schon im Frühmittelalter hatte das römische Fruchtbarkeitssymbol weitgehend das Monopol über die Lieferung von Ostereiern: das Kaninchen!
Ja, so ist es: nicht der Hase, das Kaninchen! ‹Easter Bunny›, ‹conejito de Pascua› und ‹coniglietto di Pasqua› — kein ‹hare›, keine ‹liebre› oder ‹lepre›! — Und ich möchte unterstreichen, dass es zwischen Hasen und Kaninchen enorme Unterschiede gibt: Hasen wiegen bis zu 6 kg, werden als Nestflüchter, voll behaart und sehend, in ein Nest geboren, sind Einzelgänger, haben 46 Chromosomen, gehören zu den schnellsten einheimischen Tieren und konnten nie domestiziert werden; Kaninchen bringen es höchstens auf 2 kg, werden unbehaart, blind und völlig hilflos in einem unterirdischen Bau geboren, sind gesellig, leben in Gruppen, haben 44 Chromosomen, sind als eher langsam hoppelnde Tiere außerhalb ihres Baus für Räuber eine leichte Beute und sind bereits in der Frühantike domestiziert worden. Was sie gemeinsam haben, ist, dass sie rammeln wie die Kaninchen, viel Nachwuchs haben und folglich beide prädestiniert sind, als Fruchtbarkeitssymbol zu gelten.
Portugiesisch ‹Páscoa›, Italienisch ‹Pasqua›, Französisch ‹Pâques›, Albanisch ‹Pashke›, Isländisch ‹Páskar›, Rumänisch ‹Paști›, Russisch ‹Пасха›, Spanisch ‹Pascua›, Schwedisch ‹Påsk›, Norwegisch und Dänisch ‹påske›, Niederländisch ‹Pasen›, Plattdeutsch ‹Paasken› oder ‹Paasch(en)›… haben selbstverständlich einen andern Ursprung und meinten ursprünglich auch ein anderes Fest. Diese Wörter kommen aus dem Lateinischen ‹Pascha›, das seinerseits aus dem Griechischen ‹πάσχα› (pás’cha) kommt, was die Gräzisierung von Aramäisch ‹פַּסְחָא› (pas’cha) und Hebräisch ‹פֶּסַח› (pésach) ist, was ‹weitergehen, fortschreiten› bedeutet. Dieses Fest erinnert an den Auszug aus Ägypten (Exodus), also an die Befreiung der Israeliten aus der Sklaverei, von der das 2. Buch Mose im Tanach erzählt. — Als frommer Jude ging Jesus bereits am Palmsonntag, also eine Woche vor Ostern, nach Jerusalem, um mit seinen Jüngern das Fest zu begehen, wozu es dann wegen seiner Verhaftung und Kreuzigung nicht mehr kam.
Das jüdische Passach-Fest und die christlichen Feierlichkeiten um die Passion, die Kreuzigung und die Auferstehung Christi begannen bereits im Frühchristentum (im II. und III. Jahrhundert) zu verschmelzen, während die vollständige Verschmelzung mit den germanischen und nordischen Ostern sich erst im Hoch-, zum Teil sogar erst im Spätmittelalter vollzog.
Nach der Christianisierung war es vielerorts (etwa in Irland) verboten worden, Ostern zu feiern, weil es ein heidnisches Fest war. Es gelang jedoch nicht, den Brauch zu unterbinden. Schließlich übernahm ihn das Christentum und besetzte ihn mit neuen Inhalten. Ähnliches geschah auch mit andern heidnischen Festen, zum Beispiel mit Weihnachten (Wintersonnenwende).
Nummer 45:
Was sich in einer Sitzung, Konferenz, Gerichtsverhandlung abspielt und was da von allen Seiten gesagt, gefordert oder kritisiert wird, halten wir jeweils in einem Protokoll fest. Besteht jemand in einer solchen Veranstaltung mit Nachdruck darauf, dass eine Äußerung, ein Votum, eine Berichtigung nicht vergessen werden soll, sagt diese oder dieser Intervenierende explizit: «Ich gebe zu Protokoll…»
Etwas erstaunt sind wir dann, wenn wir feststellen, dass die Verwendung des Wortes ‹Protokoll› in andern Sprachen eine andere ist. ‹Written record›, ‹minutes of meeting› sagt man auf Englisch, und auch der italienische Polizist würde, sofern er dazu zu überreden wäre, nach einem Unfall nicht ein ‹protocollo› verfassen, sondern ein ‹verbale d’incidente›.
Aber das Wort, das dem unseren so ähnlich aussieht und klingt, gibt es auch in diesen anderen Sprachen durchaus. So ist ‹follow the protocol› und ‹osservare il protocollo› beim ‹Queen’s birthday› in London so wichtig wie beim ‹Urbi et orbi› in Rom. Und schon wird klar, worin der Unterschied besteht: Das deutsche Protokoll HÄLT nach und nach FEST, was sich zuträgt, das englische und italienische LEGT im Voraus FEST, was sich in welcher genauen Reihenfolge zuzutragen hat. — Auch in der Informatik sind Netzwerkprotokolle nicht dazu da, festzuhalten, was kommuniziert worden ist, sondern zu bestimmen, nach welchen Regeln der Datenaustausch zwischen kommunizierenden Instanzen erfolgen soll.
Ganz fremd ist der deutschen Sprache diese universellere Bedeutung aber nicht. Auch auf Deutsch liest man hin und wieder in der Zeitung, dass sich ein Politiker bei einem Staatsbesuch nicht ans Protokoll gehalten habe.
Lassen wir wieder einmal die Etymologie darüber urteilen: Wer hat recht und was ist denn ursprünglich ein Protokoll? — Bevor die Bücher aus einzelnen Seiten gebunden wurden, waren es ja bekanntlich Schriftrollen. Und aufgerollt wurden sie in Bibliotheken und Archiven denn auch aufbewahrt; aufeinander und übereinander gestapelt. Während wir auf dem Buchrücken wenigstens den Namen der Autorin, den Titel des Werks, das Logo des Verlags und vielleicht die Registrierung durch die Bibliothek lesen können, war der antike Bibliothekar bei einem Stapel Schriftrollen völlig aufgeschmissen. Wie hätte er da unter Dutzenden anderer Rollen die ‹Nikomachische Ethik› und ‹Ödipus auf Kolonos› unterscheiden und finden können? — Dazu hatten die Bibliothekare eine praktische Idee: Sie schoben ein Holzstäbchen in die Rolle und befestigten einen Zettel, eine Etikette, ein Schildchen daran, worauf ungefähr die Information stand, die wir auf einem Buchrücken haben. Weil dieses Schildchen nun vorne (πρωτό, protó) an der Rolle angebracht (κολλον, kollon) war, wurde es πρωτόκολλον (protókollon) genannt; das vorne Angebrachte.