Linguistische Amuse-Bouche 51 bis 55

Alberigo Tuccillo Gesellschaft, Sprache

Nummer 51:Sie zählen mit ihren imposanten und zugleich filigranen Vertikalen, mit ihren langgezogenen Spitzbögen, mit ihren in den Himmel ragenden Türmen, in ihrer mächtigen und zugleich leichten Bauweise, in ihren gigantischen Volumina aus Stein, aber noch viel größeren, immensen, unermesslichen Ausmaßen aus Aussparung, aus Luft, aus Licht, aus nichts… völlig zu Recht zu den meistbestaunten und erstaunlichsten Bauwerken überhaupt: die gotischen Kathedralen. In Süditalien und Südspanien ist die Gotik stark von arabischen Elementen durchdrungen, in Mittelitalien hat sie sich von der Romanik nie ganz gelöst, aber vom Mailänder Dom an nordwärts haben fast in ganz Europa die großen und reichen Städte des Hoch- und Spätmittelalters ihr stolzes Wahrzeichen in einem solchen atemberaubenden Gotteshaus. Als ‹Gotik› bezeichnet man eine Epoche der europäischen Kunst, vornehmlich der Architektur. In verschiedenen nationalen Ausprägungen wird die Kunstepoche in Früh-, Hoch- und Spätgotik gegliedert und umfasst das künstlerische Schaffen vom 12. bis Mitte 15. Jahrhundert.Den Goten sind wir bereits in Amuse-Bouche 23 begegnet: Bischof Wulfila übersetzte im 4. Jahrhundert die Bibel ins Gotische, schuf damit das älteste und über viele Jahrhunderte einzige Dokument in einer germanischen Sprache. So ist diese früh ausgestorbene germanische Sprache für die Linguistik ein Schatz von unvergleichlichem Wert. Die einzige altgermanische Sprache für deren Grammatikregeln und für fast alle Wörter wir echte Belege besitzen.Nun liegen aber zwischen Wulfilas Bibel und den gotischen Kathedralen fast tausend Jahre, und die Frage drängt sich auf: Was hat die Gotik mit den Goten zu tun? — Obwohl die Antwort einfach wäre, nämlich: «Nichts!», wollen wir es uns doch nicht ganz so einfach machen.So wie die Antike sich selbst nicht Antike, das Mittelalter sich selbst nicht Mittelalter nannte, und so wie wir nicht wissen, wie und ob überhaupt man unsere Zeit in ferner Zukunft nennen wird, so nannte sich die Gotik selbstverständlich auch nicht Gotik. In Frankreich und England nannte man den Stil zu seiner Zeit ‹opus francigenum›, in Venedig ‹alla tedesca›, in den meisten Gegenden hatte er gar keinen Namen.Über die Goten wussten im Mittelalter, in der Renaissance, im Barock und bis ins 19. Jahrhundert hinein selbst Gelehrte viel weniger als heutige Amuse-Bouche-Leserinnen und -Leser. Von König Theoderich, Bischof Wulfila und ihrem Volk war nichts übrig geblieben als ihr schlechter Ruf: ‹gotico› war im Italien des Mittelalters und der Renaissance Synonym von ‹unzivilisiert, unkultiviert, barbarisch› und wurde mit dem lautähnlichen ‹zotico› (grob, manierenlos, hinterwäldlerisch, tölpelhaft) vermengt und gleichgesetzt.Der toskanische Maler, Bildhauer und Architekt Giorgio Vasari, einer der Theoretiker und Begründer der Renaissance, prägte den Begriff ‹arte gotica›, also ‹barbarische Kunst›, um abschätzig, ja mit tiefer Verachtung alles zu bezeichnen, was den griechisch-römischen und seinen eigenen ästhetischen Konzepten nicht genügte. Was nicht klassisch, hellenistisch oder eben ‹rinascimentale› (wiedergeboren) war, war barbarisch, geschmacklos, gotisch. Erst mit der Romantik verlor der Begriff die negative Konnotation und wurde teilweise sogar zum Schönheitsideal verklärt. ‹zotico› und ‹gotico› sind trotz der phonetischen und lexikalischen Ähnlichkeit etymologisch nicht verwandt. Griechisch ‹ἰδιωτικός› (idiotikós) —> Vulgärlatein ‹idioticus› —> Italienisch ‹idiota› (geistig minderbemittelt) und ‹zotico› (ethisch und ästhetisch minderbemittelt).

Nummer 52:

In der komparativen Linguistik (der vergleichenden Sprachwissenschaft) fällt immer wieder auf, dass es in einzelnen Sprachen oder sogar in ganzen Sprachfamilien merkwürdige und überraschende Lücken, fehlende Begriffe oder Strukturen gibt. In Amuse-Bouche Nummer 6 haben wir bereits gesehen, dass im Italienischen die Wörter für ‹laut› und ‹leise› fehlen; auf Lateinisch und in den romanischen Sprachen hat man dasselbe Wort für ‹Zeit› und für ‹Wetter›; auf Französisch muss man sagen: ‹Tout ce qui brille n’est pas or›, wenn man eigentlich meint ‹Es ist nicht alles Gold, was glänzt› und nicht ‹Alles, was glänzt, ist nicht Gold›; Lateinisch fehlen zudem die Wörtchen, die wir in andern Sprachen zuerst lernen, nämlich: ‹ja› und ‹nein›.Solche Mängel fallen in der Regel den Sprecherinnen und Sprechern der Sprachen, die diese Mängel aufweisen, nicht auf. Wenn ein wirklich starkes Bedürfnis nach einem Begriff oder einer Struktur bestünde, würde über kurz oder lang Abhilfe geschaffen: ein Begriff würde neu geschöpft, oder ein passendes Wort aus einer andern Sprache würde als Fremdwort übernommen, oder ein bereits existierendes Wort würde seine Bedeutung ändern und die beklagte oder eben nicht beklagte Lücke schließen. Uns profanen Weintrinkerinnen und -trinkern ist schließlich der Genuss des Rebenblutes nicht verwehrt, bloß weil wir kein Wort verstehen, wenn Önologinnen und Önologen mit kryptischen Wörtern die Vorzüge des Getränks beschreiben.Schauen wir uns aber einmal einen einfachen Satz (eigentlich sind es zwei einfache Hauptsätze) in verschiedenen romanischen Sprachen an: Latein: ‹mater parit, puer nascitur›, Portugiesisch: ‹a mãe pare, a criança nasce›, Kastilisch: ‹la madre pare, nace el niño›, Katalanisch: ‹La mare dóna a llum, el nen neix›, Italienisch: ‹la madre partorisce, il bambino nasce›, Französisch: ‹la mère accouche, l’enfant naît›, Rumantsch-Puter: ‹la mamma parturescha, l’iffaunt nascha›, Neapolitanisch: ‹a mamm figghia, a creatur nasce›… — Nun werden wohl die meisten die banale Aussage in irgendeiner Sprache oder durch Vergleich der verschiedenen Sprachen verstanden haben. Aber wenn wir versuchen, den simplen Gedanken in eine germanische Sprache zu übersetzen, merken wir, dass wir schummeln müssen: Für das, was das Kind bei Vollendung der Schwangerschaft tut, nämlich für das ‹Zur-Welt-Kommen›, haben die germanischen Sprachen kein Verb! Wir kommen nicht darum herum, die ganze Aktivität der Mutter zu überantworten und mit einer Passivkonstruktion auszudrücken, dass das Kind das wohl wichtigste Ereignis seines Lebens bloß erlitten hat: ‹Er oder sie wird geboren›, ‹she or he is born›, ‹hij of zij is geboren›… Wenn man sich ein völlig erschöpftes Neugeborenes anschaut und wenn man in einem Physiologie-Buch einmal liest, was das Kind bei Antritt seines extrauterinen Daseins an schweren und schwierigen Aufgaben aktiv zu bewältigen hat (sich wie ein Speläologe durch einen engen Gang ins Ungewisse kämpfen, sekundenschnelle Umstellung auf Lungenatmung und entsprechende hochkomplexe Anpassung des Blutkreislaufs, damit fertig werden, dass es da draußen kalt, trocken, grell und laut ist…), dann könnte man durchaus auf die Idee kommen, dass dem kleinen Menschen ein würdiges und ehrenhaftes Aktiv-Verb gebührt!Der Verzicht darauf hat aber weitere und vielleicht gewichtigere Folgen: In der romanischen Welt werden nämlich nicht bloß Kinder ‹geboren›, sondern auch die Tage, jeweils ein neues Jahr, Flüsse, Städte, neue Staaten, Vulkane, Ideen, Pläne, Musik, Gemälde, Epochen, Kulturen, Berufe, Betriebe, Konzerne, Regierungen, Hoffnungen, Freundschaft, Liebe, freilich auch Probleme, Komplikationen, Missverständnisse, Viren, Pandemien, leider sogar Hass, Kriminalität und, so paradox es klingen mag, Vernichtung… Im Grunde handelt es sich immer um Metaphern für ein Teilwerden des Daseins, letztlich um Poesie. Und diese poetische Dimension hat ihrerseits eine Fülle von Wörtern geboren: Natur, natürlich, Naturell, Naturalien, Naturwissenschaft, Naturalismus, Nation, national, international, naiv, Naivität, Naivling, Renaissance, Neonatologie… um nur einige wenige zu nennen. Diese Wörter haben die germanischen Sprachen natürlich dort holen müssen, wo sie naturgemäß entstanden sind, nämlich dort, wo die Venus von Botticelli aus eigener Kraft den Wogen entsteigt, nasce, und nicht durch einen äußeren Akt geboren wird.

Nummer 53:

Wer Englisch lernt, erfährt sehr bald — ob aus dem Lehrbuch oder von der Kursleitung —, dass ‹actually› nicht ‹aktuell› bedeutet, sondern ‹eigentlich›, und ‹pregnant› nicht ‹prägnant›, sondern ‹schwanger›. Diese Begriffspaare mit unterschiedlicher Bedeutung haben jeweils eine gemeinsame etymologische Wurzel. Sowohl ‹actually› als auch ‹aktuell› stammen vom lateinischen Verb ‹agere› (handeln, eine Rolle spielen); so hebt das englische Adverb ‹actually› hervor, was WIRKLICH und EIGENTLICH eine Rolle spielt, das deutsche Adjektiv ‹aktuell›, was JETZT, in DIESER ZEIT eine Rolle spielt. Das lateinische ‹praegnans› bedeutet ‹voll, gefüllt, getränkt› (man denke an das Verb ‹imprägnieren›); so ist ein deutscher Ausdruck prägnant, wenn er VOLL Sinn und Bedeutung ist, hingegen ist der Bauch der englischen Schwangeren ‹pregnant›, wenn er AUSGEFÜLLT ist mit einem Fötus. — Es gibt aber auch Begriffspaare mit unterschiedlicher Bedeutung, die gar keine gemeinsame etymologische Wurzel haben: der italienische ‹burro› (Butter) stammt aus dem Griechischen, der spanische ‹burro› (Esel) vermutlich (nicht geklärt) aus dem Arabischen.Diese Beispiele sind bekannt, folglich harmlos. Aber in anderen, weniger geläufigen Fällen können solche tückische grafische Ähnlichkeiten den Übersetzerinnen und Übersetzern und erst recht Übersetzungsmaschinen erhebliche Probleme aufgeben und mitunter zu verheerenden Übersetzungsfehlern führen.1928 führten die französischen Sprachwissenschaftler Maxime Koessler und Jule Derocquiny für diese heimtückisch ähnlichen Wörter den Begriff ‹falscher Freund› ein (Französisch ‹faux ami›, ursprünglich ‹faux amis du traducteur› = falsche Freunde des Übersetzers).Nun wissen gute Übersetzerinnen und Übersetzer um die Gefahr und haben alle erdenklichen Mittel zur Verfügung, um sie zu vermeiden, und auch Übersetzungsmaschinen machen rasante Fortschritte. Einige dieser falschen Freunde seien hier gewissermaßen als Appetitanreger aufgelistet:

● Ein ‹Statist› ist ein Schauspieler, dessen gespielte Figur am Rande oder im Hintergrund des Geschehens steht und nicht in die Handlung eingreift. ‹Uno statista› auf Italienisch ist ein Staatsmann.

● Eine ‹Rakete› ist ein Flugkörper mit Rückstoß-Antrieb. ‹Une raquette› auf Französisch ist ein (Tennis)-Schläger.

● Niederländisch ist man ‹bekwaam›, wenn man fähig, geeignet und nicht wenn man bequem ist, und etwas ist ‹belangeloos›, wenn es uneigennützig und nicht wenn es unbedeutend ist. So bedeutet ‹bellen› klingeln oder telefonieren und nicht die Stimme eines Hundes.

● Englisch ‹ingenuity› bedeutet ‹Einfallsreichtum›, Italienisch ‹ingenuità› aber ‹Naivität›.

● Das ‹Gymnasium› ist die weiterführende Schule, die zum Abitur, in der Schweiz zur Maturität führt. ‹Il ginnasio› ist auf Italienisch nur die untere Stufe, das Progymnasium, und ‹the gymnasium› ist auf Englisch die Sportanlage, die Turnhalle.

● Eine ‹Instanz› ist eine für eine bestimmte Entscheidung zuständige Stelle, auf Italienisch ist aber ‹un’istanza› ein Antrag, eine dringliche Anfrage.

Es gibt Hunderte, wenn nicht Tausende solcher falscher Freunde. Es würde mich freuen, wenn ich die Lust geweckt hätte, selbst nach weiteren zu suchen. — Ein letztes Warnschild noch: Falsche Freunde gibt es auch zwischen Hochsprache und Dialekten oder zwischen verschiedenen Dialekten derselben Sprache: ‹schmecken› bedeutet in schweizerischen Dialekten ‹riechen›, ‹laufen› bedeutet ‹gehen›, ‹huren› bedeutet nichts Unanständiges, sondern bloß ‹kauern›; ‹maccheroni› sind in Neapel alle Nudeln, auch ‹spaghetti› und ‹linguine›, und in schweizerischen Läden sind ‹Aktionen› und ‹azioni› nicht Handlungen oder Aktien, sondern ‹Sonderangebote›, in Italien: ‹offerte speciali›.

Nummer 54:

Das haben wir nun schon mehrfach gesehen: Es gibt Wortstämme, die mysteriöserweise aussterben, die wie ein Fluss in der Wüste zum kümmerlichen Rinnsal schwinden und schließlich ganz ausdörren, und andere, die so fruchtbar und ergiebig sind, dass man deren Sprösslingen auf Schritt und Tritt begegnet. Das Verb ‹biegen›, das wir in Nummer 47 unter die Lupe genommen haben, ist so ein ersprießliches Wort! — In dieser Nummer knöpfen wir uns aber eines vor, das an Zeugungskraft seinesgleichen sucht. Und wenn man mir auch durchaus mit Recht nachsagt, dass ich zum Übertreiben neige, bestehe ich darauf, dass es kein bisschen übertrieben ist, wenn ich sage, dass es ein Leichtes wäre, mit diesem Wort Dutzende und Dutzende von Amuse-Bouche zu füllen: Das lateinische ‹regere› (stützen).

rĕgĕre, rĕgo, rĕgis, rĕxi, rectum.

Ich habe die Stammformen, die man sich natürlich nicht merken muss, bloß aufgeschrieben, weil sie alle äußerst vermehrungsfreudig waren und es eigentlich noch sind. Das Erste, was einem Büchernarr dabei in den Sinn kommt, ist natürlich das ‹Regal›. Doch stützen und unterstützen tut man auch im übertragenen Sinn, und dafür braucht es ‹Regeln›, man muss Abläufe ‹regeln› und ‹regulieren›, man braucht ‹Regulationen›, ‹Regler› und ‹Regulatoren›. Wenn etwas ‹reguliert› und ‹geregelt› war, war es für die Lateiner ‹recte›, und was ihnen ‹recte› war, soll uns nur ‹recht› sein. Daraus leiten sich ab: ‹Recht›, ‹rechtlich›, ‹gerecht›, ‹Gerechtigkeit›, aber auch ‹richtig›, ‹richten›, ‹Richter›, ‹Gericht› ‹berichtigen›, ‹Berichtigung› und ‹Bericht›, ‹Verrichtung›, ‹Vorrichtung›, ‹Ausrichtung› und ‹Richtung›… — Wenn etwas ‹richtig› gelingen soll, muss man manchmal ‹rechnen›, und da hat man den Stamm schon wieder, mitsamt der ‹Rechnung›, der ‹Berechnung›, ob als ‹Kopfrechnung› oder mit dem ‹Rechner› (‹Rechenschieber› benützt man ja nicht mehr). Im Staat ‹regelt› die Abläufe die ‹Regierung›, ihre Herrschaft ist das ‹Regime› und das Gebiet, in dem die Herrschaft ausgeübt wurde, war die ‹Region›, auch wenn heute ‹regional› nicht mehr den ganzen Staat meint. Der germanische und gotische ‹rich› (König) hat denselben Wortstamm, und auch wenn er nur noch in Namen wie ‹Heinrich›, ‹Friedrich› und ‹Alberigo› überlebt hat, das ‹Reich› und und den ‹Bereich› gibt’s immer noch, so wie es ‹reiche› Leute gibt, obwohl einige bloß ‹ideenreich› und ‹fantasiereich› sind. ‹Regiert› man keinen Staat, sondern Schauspielerinnen und Schauspieler, führt man ‹Regie›, führt man eine Schule, ist man ‹Rektorin› oder ‹Rektor›, ein Orchester, ist man ‹Dirigentin› oder ‹Dirigent›, einen Betrieb, ‹Direktorin› oder ‹Direktor›. Wird etwas nicht ‹richtig› gemacht, verletzt es eine ‹Regel›, ist es folglich nicht ‹korrekt›, dann muss es ‹korrigiert› werden. — Wenn auf Lateinisch etwas noch nicht ‹richtig›, noch nicht ‹recte› war, man aber wollte, dass es ‹recht› werden würde, verwendete man das von ‹regere› abgeleitete Verb ‹rogare› (verlangen, dass etwas ‹Rechtes› gemacht oder gesagt würde). In den romanischen Sprachen hat ‹rogare› eine Fülle von Wörtern generiert, auf Deutsch immerhin ‹interrogativ› und ‹arrogant›. Doch auch auf Deutsch ist eine Analogie zu ‹rogare› entstanden, nämlich ‹regen› und ‹recken›! Daraus: ‹anregen›, ‹aufregen›, ‹erregen›…

Ich denke, dass es allen ‹recht› ist, wenn wir mit der Bemerkung, dass ‹regelrecht› ein ‹regelrechter› Pleonasmus, ein weißer Schimmel ist, hier ‹direkt› einen ‹Riegel› schieben und mit ‹rektal›, ‹Regatta›, ‹Erektion›, ‹Ragtime›, ‹verrucht›, ‹ruchlos› und ‹geruhen› (letzteres kommt entgegen dem Sprachgefühl nicht von ‹ruhen›!) ein andermal weiterfahren.

Nummer 55:

Auf der Fahrt zu meiner zweiten Impfung habe ich mich im Zugabteil sofort in «Marya» von Joyce Carol Oates vertieft, das mir eine liebe Freundin unlängst geschenkt hat. Trotz der fesselnden Lektüre lenkte mich indiskrete Neugier ab und ich lauschte dem Gespräch zweier sehr jungen Frauen, die im Abteil nebenan kichernd und in jugendlicher Unbeschwertheit über ein Thema disputierten, das wir ältere Semester, wenn überhaupt, bestimmt nicht in der Öffentlichkeit bereden würden: ihre ‹Regel›, ihre ‹Periode›, ihre ‹Tage›… — Wie genierlich es uns Graukappen ist, über so etwas zu reden, erkennt man schon allein daran, dass wir dafür Wörter verwenden, die an sich etwas ganz anderes bedeuten: weder die ‹Regel›, noch die ‹Periode›, noch die ‹Tage› bezeichnen eigentlich das, was wir bezeichnen und zugleich nicht wirklich bezeichnen möchten. Dieses ‹Um-den-Brei-Herumreden› heißt in der Sprachwissenschaft ‹Tabuisierung›. Tabuisierungen gibt es in allen Sprachen und man trifft sie, je nach Kultur, vor allem im Bereich der Religion, der Sexualität, des Todes, schwerer Krankheiten, Seuchen und des Unheimlichen, Dämonischen an. Man kennt Aussagen wie ‹Frau Doktor, ich habe unten Schmerzen›, wenn man nicht die Füße meint, ‹Unser lieber Großvater ist heimgegangen›, wenn er die Adresse zum allerletzten Mal geändert hat, ‹Sie haben sich näher kennengelernt›, wenn der Abstand zwischen ihnen vorübergehend auf einen negativen Betrag geschrumpft ist, ‹Es sieht nicht gut aus›, wenn man über die Formulierung der Bestattungsanzeige nachdenkt, ‹Gottfried Stutz!›, wenn man eigentlich einen andern Herrn als Herrn Stutz meint und dergleichen.

Die beiden Mädchen aber waren in ihrer Reinheit, Ehrlichkeit, Offenheit und heiter unschuldigen Ernsthaftigkeit alles andere als vulgär und mir im Grunde eine beschämende Lehre. Ich muss auch anerkennen, dass sie von Physiologie mehr als bloß eine vage Ahnung hatten; jedenfalls eine weit tiefere Kenntnis als von Linguistik! Ja, denn eine der beiden empörte sich über die vermeintliche Hässlichkeit des Wortes ‹Menstruation›, das sie völlig zu Unrecht mit ‹Monster› und ‹monströs› assoziierte. Selbstverständlich gebot mir der Anstand, mich nicht einzumischen, um den Irrtum zu klären, aber eine kleine Hoffnung habe ich, dass diese Zeilen hier oder sonst irgendeine einschlägige Worterklärung dereinst ihre Abneigung gegen das schöne Wort zerstreuen mögen: Das Wort ‹Menstruation› besteht aus zwei Teilen, aus dem lateinischen ‹mensuus› (monatlich) und aus dem Verb ‹struere› (aufbauen). Auf ‹struere› gehen Wörter zurück wie ‹konstruieren›, ‹instruieren›, ‹Struktur›, ‹Instrument›, auch ‹streuen›, ‹Zerstreuung› und ‹Stroh› sind verwandt (freilich auch ‹destruktiv›; alles hat eben auch eine Schattenseite). — Was ist aber gemeint, was da monatlich liebevoll aufgebaut wird? Na, das weiche, warme, nährende und schützende Bettchen, in welchem eines (beim geschätzten Alter der Mädchen hoffentlich nicht allzu nahen) Tages eine Zelle zu einem Kind heranwachsen wird. — In einer Hinsicht hatte die Kritik der jungen Frau aber doch eine gewisse Berechtigung: Mit dem Wort ‹Menstruation› bezeichnen wir meistens und fälschlicherweise lediglich das Ende des Aufbaus, nämlich die Menorrhö, den Verlust des Aufgebauten.