Linguistische Amuse-Bouche 61 bis 65

Alberigo Tuccillo Gesellschaft, Sprache, Wissenschaft

Nummer 65:

Bluetooth kennen wohl alle Facebook-Benützerinnen und -Benützer. Es ist ein Industriestandard für die Datenübertragung zwischen Geräten (Rechnern und Peripheriegeräten) über kurze Distanz per Funktechnik. Dabei sind verbindungslose sowie verbindungsbehaftete Übertragungen von Punkt zu Punkt möglich. Aus sprachlicher und semiotischer Sicht interessiert vor allem: Was hat es mit dem kuriosen Namen und dem einprägsamen, grafisch sehr schönen Symbol auf sich?

Im 10. Jahrhundert errang ein Wikinger-König in zahlreichen Schlachten entscheidende Siege, die zur Vereinigung des bis dahin verzettelten Königreichs Dänemark, zur Annexion Norwegens und zur Christianisierung Skandinaviens führten. Dieser König, hieß Harald Gormsøn und wurde allgemein mit seinem Übernamen ‹Blå Tand› (Blauzahn) genannt — wahrscheinlich hatte er einen kranken Zahn, den er möglicherweise darüber hinaus mit irgendwelchen Substanzen behandelte, denen wir hier nicht weiter nachforschen.

König Harald ließ einen Gedenkstein anfertigen, der an seine Heldentaten erinner sollte, der heute noch im dänischen Städtchen Jelling zu sehen ist und auf dem der Eroberer mit seinen Initialen in Runenschrift erwähnt ist: ᚼ (Hagall) für Harald und ᛒ (Bjarkan) nicht für Gormsøn, sondern für ‹Blå Tand› (Blauzahn). [Hagall ist der Name der Rune ᚼ, hat den Lautwert H und bedeutet ‹Hagel›, Bjarkan ist der Name der Rune ᛒ, hat den Lautwert B und bedeutet ‹Birke›. Durch einfache Überlagerung der beiden Runen erhält man das Monogramm für ‹Harald Blauzahn› und zugleich das Symbol für Bluetooth.]

Ungefähr tausend Jahre nach Harald Blauzahn, nämlich 1997, war der Ingenieur Jim Kardach, der maßgeblich an der Entwicklung des besagten Industriestandards beteiligt gewesen war, so sehr von König Blauzahns Vereinigung Dänemarks und dessen Aufstieg zur Großmacht beeindruckt, dass er gleichsam eine Analogie zu seiner eigenen technologischen Erfindung sah, dass er sie ‹Bluetooth› nannte und des Königs Monogramm als Symbol dafür vorschlug.

Nummer 64:

Bevor wir uns auf den Kern dieser Nummer fokussieren, müssen wir etwas Wesentliches festhalten: Es gibt Konsonanten, die sich in bestimmten Zeiten und in bestimmten Gebieten nach strengen Gesetzmäßigkeiten verändern, den sogenannten Lautverschiebungsgesetzen. Davon gibt es Hunderte. Hier erwähne ich nur zwei als Beispiel:
• p ⇒ f in der 1. Lautverschiebung: pes, piede, pied ⇒ Fuß, foot; pisces, pesce, poisson ⇒ Fisch, fish; pater, padre; père ⇒ Vater, father (V in Vater hat den Lautwert F) etc.
• f ⇒ h von Latein zu Spanisch: ferrum (Eisen) ⇒ hierro; fabulare (erzählen) ⇒ hablar (sprechen); formicula (Ameise) ⇒ hormiga etc.
Es gibt jedoch auch Konsonanten, die nicht nach strengen Gesetzen vertauscht werden, und dies in beide Richtungen:
• v (als w-Laut) und b: ‹Bizkaia› ⇔ ‹Vizcaya›, ‹Habana› ⇔ ‹Havanna›, ‹labor› ⇔ ‹lavoro›, ‹taberna› ⇔ ‹taverna›, β wird Altgriechisch als b, Neugriechisch als v (w) ausgesprochen etc.
• n und m: ‹Amphitheater› / ‹anfiteatro›, ‹Amphibium› / ‹anfibio›, ‹tram› / ‹tranviere› (Tramfahrer), so sind auch die Wörter ‹Nische›, ‹Muschel› und ‹Muschi› etymologisch dasselbe Wort. — Um diese letztere Vertauschbarkeit von m und n geht es jetzt.

Wenn man die Karte zu diesem Amuse-Bouche betrachtet, fällt auf, dass das Wort für ‹Mutter› über die Sprachfamilien hinweg in sehr vielen Sprachen sehr ähnlich ist. Noch ähnlicher sind die Wörter, wenn man jeweils nicht das hochsprachliche Wort, sondern das familiäre vergleicht: also ‹maman› und nicht ‹mère›, ‹mamma› und nicht ‹madre›, ‹mum› und nicht ‹mother› etc. — wenn man dazu noch berücksichtigt, dass n und m etymologisch vertauschbar sind und wenn wir uns daran erinnern, dass die Metathesis (Änderung der Reihenfolge der Buchstaben) in der Sprachgeschichte ein äußerst häufiges Phänomen ist, dann holt man auch die türkische ‹anne›, die ungarische ‹anya› und die albanische ‹nënë› ins Boot. Dazu: Hebräisch ‹אִמָא› (ima), Arabisch ‹أمي› (′umiy).

Warum ist das so? — Nun, das könnt ihr leicht mit einem einfachen Experiment selbst herausfinden: Schließt den Mund ganz locker und haltet ein paar Sekunden lang einen leisen Summton aus, ohne ihn in der Tonhöhe zu verändern. Öffnet und schließt dann ganz leicht den Mund, ohne das Summen zu unterbrechen. — Wenn ihr jetzt nicht wisst, was ihr hättet merken sollen, dann habt ihr etwas falsch gemacht. Versucht es einfach noch einmal.

Die ersten Geräusche, die Kleinkinder (neben dem Weinen) mit dem Sprachapparat erzeugen, sind Summtöne. Dass sie dabei auch ab und zu den Mund öffnen, liegt nahe. Und da die Person, die sich von diesem unbeabsichtig erzeugten Wort angesprochen fühlt, in der Regel die Mutter ist, haben wir die Erklärung.

Nummer 63:

Ein Facebook-Freund, den ich in der physischen Welt noch nie gesehen habe, vertrat die Meinung, dass ich die Meinung nicht vertreten dürfe, es gebe einen Unterschied zwischen einer Meinung, die meiner nicht entspricht, und einem Irrtum. Er war der Meinung, meine Meinung verletze die Meinungsfreiheit.

Darauf machte ich ihm folgendes Beispiel: Wenn wir Milliarden von Raben beobachtet haben und ohne Ausnahme alle Raben schwarz waren und ich nun sage: «Alle Raben sind schwarz.», du aber sagst: «Es könnte auch türkisfarbene Raben geben.», dann sind dies zwei Meinungen: eine fundiertere (meine) und eine weniger fundierte (deine). Wenn wir nun weitere Milliarden von Raben beobachten und eines Tages unter den unzähligen schwarzen einen weißen Raben entdecken, und du nun wiederholst: «Es könnte auch türkisfarbene Raben geben.», dann ist deine Meinung sogar ein Klitzekleinwenig weniger unfundiert. Wenn ich nun aber wiederhole: «Alle Raben sind schwarz.», ist es ein Irrtum.

Den Facebook-Freund, den ich in der physischen Welt noch nie gesehen habe, werde ich nun auch in der virtuellen Welt nicht mehr sehen, denn er hat mich offenbar zur Rettung und im Namen der Meinungsfreiheit blockiert.

Nun hat es mich aber doch interessiert, zum Wort ‹Meinung› auch die Meinung der Linguistinnen und Linguisten einzuholen! Die Etymologie kann nicht bis zu einem protoindoeuropäischen Stamm verfolgt werden, aber immerhin ist eine keltische Wortgruppe um Altirisch ‹mīan› (Wunsch, Verlangen) bekannt. Althochdeutsch ‹meinan› und Mittelhochdeutsch ‹menen› wurden bereits mit der heutigen Bedeutung und mit der heutigen Unschärfe verwendet: die Möglichkeit des Irrtums oder sogar der absichtlichen Täuschung steckt seit jeher im Wortstamm, wie man an dessen Ableitungen erkennt: ‹vermeinen›, ‹vermeintlich›, ‹gemein›, ‹Gemeinheit›, ‹Meineid›, ‹meiden›, [vermutlich mit dem Altgermanischen ‹*maina› (falsch) verwandt.]

In diesem Zusammenhang ist auch das Verb ‹erwähnen› interessant und in einem späteren Amuse-Bouche unter die Lupe zu nehmen, denn ‹erwähnen› leitet sich von ‹Wahn› ab und wurde noch im Mittehochdeutschen ausschließlich für Äußerungen in außergewöhnlicher psychischer Verfassung verwendet (Trance, Trunkenheit, Fieber).

Nummer 62:

Die Avocado (Persea americana) ist eine Pflanzenart aus der Familie der Lorbeergewächse (Lauraceae). Die Frucht ist aus botanischer Sicht eine Beere und hatte in der Vergangenheit auch andere Bezeichnungen wie etwa Avocadobirne, Alligatorbirne oder Butterfrucht. Das Nahuatl-Wort (Nahuatl ist die Sprache der Azteken) ‹āhuacacuahuitl› bezeichnet die Pflanze, während die Frucht ‹āhuacatl› heißt, was auch ‹Hode› bedeutet. Über die spanische Verballhornung ‹aguacate› gelangte das Wort gleichzeitig nach Europa und in die bereits englisch- und französischsprachigen Gebiete der USA, wo die Frucht unter dem Namen ‹avocado› beziehungsweise ‹avocat› schnelle Verbreitung fand und die Bezeichnung in fast allen Sprachen bestimmte; zum Beispiel: Portugiesisch ‹abacate›, Arabisch ‹أفوكادو› (’afukadu), Russisch ‹авокадо› (avokado), sogar Baskisch ‹aguakatea›, Ungarisch ‹avokádó›, Finnisch ‹avokado› und Ivrit ‹אבוקדו› (avukado). Einzig im Spanischen, das die ursprünglich aztekische Vokabel ja alternativlos in der ganzen Welt verbreitet hat, hat sich auch das Quechua-Wort ‹palta› erhalten (Quechua ist die Sprache der Inka).

Selbstverständlich hat die Avocado mit dem Rechtsanwalt nicht das Geringste zu tun! Aber da ich neulich beim Gemüsehändler gleich um die Ecke gesehen habe, dass er die einschlägigen Früchte mit ‹Advokat› anschreibt, will ich auch dieses mysteriöse Wort erklären: Advokat ist ein im deutschsprachigen Raum veraltetes, in der Schweiz, vor allem in den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft noch gebräuchliches enges Synonym für Rechtsanwalt. Die Funktion des ‹advocatus› gab es bereits im antiken Rom. Das Wort leitet sich vom Verb ‹advocare› (herbeirufen, zuziehen, beiziehen, zu Hilfe rufen) ab.

Interessant ist auch die Figur des ‹advocatus diaboli› oder ‹Anwalt des Teufels›: Das war ursprünglich ein Kirchenanwalt, der in einem Heiligsprechungsprozess die zusammengetragenen Belege und Argumente für die Heiligsprechung anfocht und Argumente dagegen einbrachte. Selbstverständlich bemühte er sich, wenn er innerhalb der katholischen Kirche eine Karriere machen wollte, den Teufel nicht allzu effizient und erfolgreich zu vertreten.

Nummer 61:

Immer wieder reiten Paladine zur Rettung irgendwelcher Ausdrucksweisen und -formen durch die Sprachlandschaft. Manchmal führen sie ihre Scharmützel mit Argumenten, manchmal ohne. Beides ist legitim, denn Sprachen entstehen und verändern sich durch ihre Benützerinnen und Benützer, indem diese meistens unbewusst und durchaus irrational gewisse Formen bevorzugen und andere vernachlässigen oder sie anders verwenden als früher. Da auch die selbsternannten Gralshüter und -hüterinnen der Idiome zugleich deren Benützerinnen und Benützer sind, kann und will man ihnen das Recht nicht absprechen, ihren Senf abzugeben, auch wenn man diesen gerade nicht mag. Wenn allerdings Argumente aufgetischt werden, dann sollten diese auch richtig sein, denn falsche Behauptungen sollte man nicht stehen lassen.

Wenn sich jemand also darüber aufregen will, dass Jugendliche und inzwischen nicht mehr ganz so Junge das Wort ‹geil› allzu leichtfertig im Munde führen, genügt es vollkommen, wenn man sagt: «Ich mag dieses Wort nicht und will nicht, dass du es benützt!» — Ein schwaches, aber immerhin ehrliches und zutreffendes Argument!

Aufs Glatteis könnte man sich begeben, wenn man anfängt, sprachgeschichtlich zu argumentieren! Es sei denn, man baut die Polemik auf Fakten auf:

Das altgermanische Adjektiv ‹gāl› bedeutet ursprünglich ‹in Gärung befindlich, aufschäumend› [Altniederländisch ‹gijlen› (gären) und Altisländisch ‹gil› (gärendes Bier)]. Belegt sind das gotische Verb ‹gailjan› (erfreuen) und das altenglische Adjektiv ‹gāll› (stolz) sowie Mittelenglisch ‹gæl› (übermütig, lustig), Althochdeutsch und Mittelhochdeutsch ‹geil› (kraftvoll; üppig; lustig, fröhlich), Altisländisch ‹geiligr› (stattlich, schön). Außergermanisch ist damit verwandt die baltoslawische Wortgruppe um Litauisch ‹gailùs› (jähzornig; beißend).

Im 17. bis Ende 19. Jahrhundert wurde neuhochdeutsch ‹geil› vorwiegend als ‹üppig, wuchernd, rankend› (von Pflanzen) verwendet. Die Bedeutung von ‹geschlechtlich erregt, brünstig› taucht erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunächst in literarischen, vorwiegend lyrischen Texten als Metapher auf, geht nach und nach in den allgemeinen Sprachgebrauch über und verdrängt binnen weniger Jahrzehnte alle anderen Jahrhunderte alten Bedeutungen.