Nummer 80:
Schon vor einiger Zeit — um die Nummer 25 oder 30 herum — wollte ich über dieses Thema etwas schreiben. Dann ließ ich es bleiben, weil ich die Polemik jener vermeiden wollte, die immer schon wissen, was ich meine, bevor sie gelesen haben, was ich schreibe. Die Sache interessiert mich nun aber doch zu sehr, als dass ich ganz darauf verzichten wollte, bloß weil man mir sowieso etwas unterstellen wird. Wer weiß, was ich meine, ohne zu lesen, wird es schließlich auch schon wissen, ohne dass ich es geschrieben habe.
Eine prophylaktische Erklärung möchte ich aber dennoch vorausschicken: Ich bin entschieden dafür, dass man Texte und Sprache überhaupt gendergerecht verfasst und gestaltet! Ich bin der dümmlichen Posts nämlich schon lange überdrüssig, die mit hirnlosen und alles andere als lustigen Wörtern wie ‹Lampenschirm*in›, ‹Rasenmäher_In› und ‹Genderwahn› neuronale Insuffizienz und Denkverweigerung mit Satire verwechseln und im Namen des überstrapazierten angeblichen ‹gesunden Menschenverstands› gegen einen nötigen und nicht aufzuhaltenden Prozess wettern.
Wenn ich also für mich — einzig und allein für mich persönlich! — formelhafte Ausdrücke wie ‹Leser:innen›, ‹Leser_innen›, ‹LeserInnen›, ‹Leser*innen› vermeide, hat es ganz andere Gründe. Ich mag nämlich in einem Prosatext generell Abkürzungen nicht. Im Kopf einer Spalte in einer Excel-Tabelle, in einer Einkaufsliste oder in Vorlesungsnotizen mögen Abkürzungen einen Sinn haben, aber in einem Brief, in einem Artikel, in einer Stellungnahme schreibe ich lieber ‹zum Beispiel› als ‹z.B.›, lieber ‹meines Erachtens› als ‹m.E.› und lieber ‹Leserinnen und Leser› als eine der oben aufgelisteten Formeln zu benützen. Dazu kommt, dass die Formel im Dativ, wenn einem und einer Grammatikfehler nicht vollkommen Wurscht sind, noch unleserlicher wird: ‹Leser(n)*innen›; und schließlich sind Gebilde wie
‹Zahn-(Arzt/Ärztin)-Assistent(en)*innen›
weder praktisch noch ästhetisch.Was treibt uns eigentlich ständig dazu an, Abkürzungen zu suchen, Tricks zu übernehmen (nicht einmal selbst zu erfinden), um vorzugaukeln, nicht Gemeinte seien halt doch irgendwie mit gemeint, nach Zitaten zu googeln, statt uns in Ruhe zu überlegen, ob wir selbst überhaupt etwas zu sagen haben, in der Illusion zu verharren, fremde Gedanken, die man dank Copy and Paste zuvor nicht einmal wirklich lesen, geschweige überdenken muss, könnten über schiere Gedankenlosigkeit hinwegtäuschen? Wenn es jemandem zu mühsam erscheint, die Personen, an die er oder sie denkt, wenigstens eines eigenen Wortes zu würdigen, kann sie oder er dann wirklich glaubhaft machen, sie in eine Formel oder sogar in ein Gebet eingeschlossen zu haben?
Im nächsten Amuse-Bouche werde ich weitere Gedanken zum grammatischen Geschlecht in verschiedenen Sprachen posten. Vorerst will ich bloß festhalten, dass ich es zwar wichtig finde, immer alle Menschen zu erwähnen, viel wichtiger aber, die Erwähnten auch zu meinen!
Nummer 79:
Durch die Pandemie bedingt wird es schon eine Weile her sein, aber ihr werdet sie bestimmt vom letzten Urlaub in Griechenland noch in Erinnerung haben, die vielen Lastwagen, die mit ‹μετάφορες› (metáfores) angeschrieben sind. Auch außerhalb von Griechenland sieht man sie gelegentlich. Fast jeder griechische Lastwagen trägt irgendwo, ob groß oder klein, rot, blau, schwarz oder irgendeiner Farbe, neben Namen, Adressen, Telefonnummern diesen Schriftzug: ΜΕΤΑΦΟΡΕΣ.
Die meisten werden sich nach kurzem Überlegen die Sache schon zusammengereimt haben. Aber für diejenigen, die sich immer noch nicht erklären können, warum die Griechen dauernd Metaphern im Land und auf den Autobahnen Europas herumfahren, will ich das vermeintliche Geheimnis lüften: Neugriechisch ‹μετάφορες› (metáfores) aus dem Altgriechischen ‹μεταϕορά› (metaphorá) bedeutet nichts anderes als ‹Transport›; es ist die Substantivierung von ‹μεταϕέρω› (metaphéro): ‹ich bringe an einen anderen Ort›.
Das Schöne am Forschen, am Entdecken, am Lernen ist ja, dass uns jede gewonnene Erkenntnis um neue Ungewissheiten reicher macht, neue Fragen aufwirft und neue Rätsel aufgibt. Wenn wir nun wissen, warum die griechischen Transportunternehmen so heißen, wie sie eben heißen, stellt sich die Frage: «Was haben denn die anmutigen Metaphern unserer Lyrik, der Lieder und unserer Liebesbriefe mit einem Transportunternehmen zu tun?»
Das Beste wird wohl sein, wenn wir gleich zwei Begriffe zusammen untersuchen, die selbst Fachpersonen oft verwechseln und vertauschen: die Metapher und das Symbol.
Das Symbol — aus ‹σύν› (sýn) ‹zusammen› und ‹βάλλω› (bállo) ‹ich füge›, also etwas ‹Zusammenfügendes› — ist ein Zeichen, das durch Konvention, durch Übereinkunft, durch Vereinbarung für etwas anderes steht: steht für ‹weiblich›,
steht für ‹männlich›, ∞ steht für ‹unendlich›,
steht für ‹Müll bitte hier entsorgen›,
steht für ‹Toilette›, der geflügelte Löwe steht für die alte ‹Republik Venedig›, ein Totenkopf über zwei gekreuzten Knochen steht für ‹Gift› oder für ‹Piraten›, die Ziffern sind Symbole und die Buchstaben, Währungszeichen, Verkehrssignale, Firmenlogos, Flaggen, Piktogramme, aber auch reale Personen wie Che Guevara, Rosa Luxemburg, Mahatma Gandhi und Eva Perón und fiktive wie Lysistrata, Dornröschen, Wilhelm Tell und Dagobert Duck können die Funktion eines Symbols für eine politische Haltung, für ein Ideal, für eine gute oder schlechte Eigenschaft einnehmen. Dabei muss die Bedeutung eines Symbols nicht zwingend von vornherein festgeschrieben sein. Etwas oder jemand kann im Verlauf einer Erzählung oder eines Prozesses nach und nach zum Symbol für etwas Bestimmtes werden.
Anders verhält es sich bei der Metapher. Die Metapher ersetzt nicht das Gemeinte durch ein konventionelles Zeichen, sondern nennt das Gemeinte, ohne es zu ersetzen, mit einem unkonventionellen Wort oder mit mehreren unkonventionellen Wörtern, wodurch eine Spannung entsteht und die Lesenden oder Zuhörenden sich die Frage stellen müssen: Warum wird dieser Gegenstand, dieser Sachverhalt, diese Person mit einem nicht konventionellen Wort bezeichnet? Warum wird das ‹Alter› hier ‹Abend› genannt? Warum steht in diesem Text ‹wir sitzen alle im selben Boot›, wo doch gar niemand in einem Boot sitzt? — Man denkt darüber nach und aus der ‹falschen› Bezeichnung quillt eine neue Bedeutung hervor: das Altern als Abend zu bezeichnen, vergleicht ein Leben mit einem Tag. Ohne dass es überhaupt explizit gesagt wird, ist in diesem Bild die Jugend ein Morgen, und an die Nacht zu denken, ängstigt weniger als an den Tod. Das Boot, in dem wir alle sitzen, macht deutlich, dass ein Schiff sich nicht aufteilen und nicht in verschiedenen Häfen zugleich vor Anker gehen kann und dass es, wenn es kentert, für alle kentert.
Die Metapher zwingt zu einer Interpretation, die… — ja richtig! —, genau wie der Lastwagen in Thessaloniki oder Heraklion, Lesende oder Zuhörende an einen andern Ort führt.
Nummer 78:
Kein Wort ist international so verbreitet wie ‹okay›! Über alle Sprachfamilien hinweg ist es in Nord- und Südamerika, in Europa, in der arabischen Welt, in Asien und Ozeanien so beliebt wie häufig verwendet. Es ist modisch und zeitlos, gehört weder einem bestimmten Stand noch einem bestimmten Register an, gehört weder zu einer politischen Gesinnung noch zu einer religiösen Haltung und es ist viel praktischer als ‹Ja›, weil es offener, vielfältiger, weniger präzis in der Bedeutung ist. Man kann es benützen, um begeistert zuzustimmen: «Okay, ich komme gern! Danke für die Einladung.», oder resigniert: «Okay, lassen wir das. Tschüs!», devot: «Okay, Chef, ich mach’s gleich.», sich distanzierend: «Okay, aber ohne mich!», skeptisch (dann in der Regel sehr gedehnt ausgesprochen): «Okay, du traust ihr also sowas wirklich zu?», resolut: «Okay, Kinder, ab ins Bett!», ungläubig: «Sie meinen wirklich mich? Büchner-Preis? O…o…kay…».
Umso mehr erstaunt es, dass niemand genau weiß, wie der Ausdruck entstanden ist. Allen Metcalf, ein amerikanischer Sprachwissenschaftler, hat nach jahrelanger akribischer Forschung darüber ein ganzes Buch von zweihundert Seiten geschrieben ‹OK — The Improbable Story of America’s Greatest Word›. Darin untersucht er alle Deutungs- und Erklärungsversuche, die im Umlauf sind oder waren und die zum Teil sogar in Lehrbüchern als ultimative Wahrheit ausgegeben werden. Metcalf gelingt es zwar, die meisten von ihnen zu widerlegen — für eine Erklärung einen schlüssigen Beweis zu finden, gelingt ihm allerdings nicht.
Schauen wir uns ein paar dieser Erklärungsversuche an, für die Metcalf, meines Erachtens nicht berechtigterweise, das Wort ‹Theorie› verwendet. Das möchte ich vermeiden, denn in der Wissenschaft gibt es bereits ein Wort für eine falsifizierte ‹Theorie›, nämlich ‹Irrtum!›:
Vor allem im deutschsprachigen Raum zirkulierte lange die Legenden von einem äußerst gründlichen Qualitätskontrolleur, Otto Krause, der angeblich bei Ford oder bei anderen Firmen arbeitete und der, wenn er etwas streng geprüft und für gut befunden hatte, seine Initialen ‹O.K.› auf das geprüfte Werkstück schrieb. Abgesehen davon, dass der pedantische Prüfer in mancher Version bald Oswald Krüger, bald Oskar Keller heißt, gibt es dafür keinen einzigen Hinweis, geschweige einen Beleg.
Sosehr es mir auch gefallen würde, wenn der Ausdruck, wie einige vermuten, aus der indigenen Choctaw-Sprache käme, wo ‹okeh› so viel bedeutet wie ‹ja›, ‹jawohl›, ‹so ist es›, gibt es in Wirklichkeit nichts, was für eine solche Annahme spricht: Weder topografisch noch gesellschaftlich können die Choctaw mit der Verbreitung von ‹Okay› in Verbindung gebracht werden, noch hatte ihre Sprache irgendeinen Einfluss auf das amerikanische Englisch.
Auch für die Vermutung, das ‹OK› komme von den Telegrafen, die mit dem Kürzel für ‹open key› die Empfangsbereitschaft signalisieren wollten, fehlen Indizien und erst recht Beweise. ‹Okay› wurde zudem bereits vor dem ersten Morse-Signal 1844 verwendet. Wenngleich die Telegrafie, auch wenn sie den Ausdruck nicht geprägt hat, später fraglos und maßgeblich an dessen Verbreitung beteiligt war!Metcalf hält eine in einem Aufsatz von 1941 veröffentlichte Erklärung für die zurzeit wertvollste, obwohl sie nicht viel mehr ist als eine heiße Spur und das Problem um den Ursprung des Ausdrucks noch nicht löst. Diese Erklärung stützt sich auf den ältesten eindeutigen Beleg aus dem Jahr 1839. Da taucht das Kürzel ‹o.k.› in der ‹Boston Morning Post› auf, und zwar als Abkürzung für ‹all correct›. Das hört sich zunächst merkwürdig an: Das Wort ‹all› beginnt mit ‹a› und ‹correct› mit ‹c›, also müsste man ‹all correct› mit ‹a.c.› abkürzen. Doch damals gab es in amerikanischen Zeitungsredaktionen die Mode, absichtlich orthografisch falsche Abkürzungen zu benutzen, etwa ‹ky› für ‹know yuse›, richtig wäre ‹no use› (überflüssig, zwecklos, unbrauchbar). Die Redaktion der ‹Boston Morning Post› benützte ‹o.k.› für ‹all correct› über einen langen Zeitraum regelmäßig, was auf der einen Seite jeden Zweifel zerstreut, es auf der anderen Seite jedoch sehr wahrscheinlich macht, dass der Ausdruck schon vorher, wenigstens unter Journalisten und Typografen, allgemein bekannt war. Man besitzt beispielsweise Anweisungen und Informationen für neu eingestellte Mitarbeiter der Zeitung, aber keine dieser Instruktionen enthält Erklärungen über die verwendeten Kürzel, sodass man annehmen muss, dass auch Neulinge deren Bedeutung von ihrer Ausbildung her kannten.
1839 ist also die älteste gesicherte Spur. Das Geburtsjahr ist noch nicht klar. Okay?
Nummer 77:
Warum verstehen wir einander nicht? Warum scheitert so oft der Versuch, ein Missverständnis zu klären, und führt im Gegenteil nicht selten dazu, dass wir uns, je mehr wir glauben, uns um Eintracht zu bemühen, voneinander weiter und weiter in Zwietracht entfernen, bis wir uns schließlich nicht einmal mehr sicher sind, dass wir einander überhaupt je wirklich hätten verstehen wollen und ob es uns nicht letztlich billig und recht ist, wenn wir die Kommunikation nun endgültig abbrechen?
Einige werden nun wohl aufhorchen und mir Einhalt gebieten: Eine Angelegenheit, um die sich die Psychologie, die Mediation, die Soziologie, meinetwegen auch die Ethnologie zu kümmern hat — was zum Kuckuck mischen sich da die Linguistik und die Semiotik ein?
Nun, ich gebe zu, dass viele der aktuellen öffentlichen Zerwürfnisse genau aus dem Grund entstehen, weil sich manch eine und manch einer aus einem missverstandenen Demokratieverständnis heraus legitimiert fühlen, sich auch zu Dingen, Phänomenen und Sachverhalten zu äußern, wovon sie und er keine Ahnung haben. Man braucht heute nicht zu wissen, dass ein Quant die kleinstmögliche Veränderung eines Zustandes ist, um von einem riesigen Quantensprung zu faseln, man braucht den Unterschied zwischen Wetter und Klima nicht zu kennen, um sich zum Anthropozän zu äußern, so wie es nicht Bedingung ist zu wissen, was mRNA bedeutet, um der Menschheit zu offenbaren, welche Übel sie anrichten kann und dass sie obendrein gar nicht existiert. Drum bleibe der Schuster bei seinen Leisten und der Linguist bei seinen Listen an Morphemen, Phonemen und Etyma aus toten Sprachen.
Freilich. Doch unter der ganzen Problematik um die Streitdynamik, mit der sich Seelsorge und Psychotherapie herumschlagen müssen, gibt es doch einen Aspekt, der die Sprachwissenschaft angeht: Die Bedeutung von Wörtern. Und auf die Untersuchung dieses Aspekts will ich mich hier beschränken.
Was sich bei einer Kommunikation abspielt, mag ganz banal erscheinen. Um aber auf einfachste Weise darzustellen, was ich sagen möchte, erläutere ich das Triviale trotzdem: Anna sagt zu Balz beim Frühstück: «Butter!» — A. hat eine Vorstellung; sie denkt an eine weißgelbliche aus Kuhmilch gewonnene Fettmasse, die sie aufs Brot streichen möchte. Sie denkt vielleicht auch: «Unsere ist, im Gegensatz zur Butter im Urlaub, nicht gesalzen.» Und wohl auch: «Balz, würdest du sie mir bitte reichen?» Nichts ganz Klares! Nichts Strukturiertes! Alles vage im Nebel der Schlaftrunkenheit, von Fetzen von Gedanken an den bevorstehenden Tag, an die Abfahrtzeit des Busses und an die neulich gemessenen Cholesterin-Werte durchsetzt. Aus diesen diffusen neuronalen Prozessen formt A. nun ein Wort, genauer: eine physioelektrische Anweisung an den Sprechapparat, nach der ein akustisches Signal erzeugt wird, das sich in der Luft der Küche ausbreitet. B. bemerkt nun, dass sein Trommelfell eben zu schwingen beginnt, und sein Gehirn sagt sich: «Das könnte etwas sein, was mich angeht.» Seine Neurone sagen ihm sofort: «Das akustische Phänomen steht für ‹Butter›!» und andere Hirnzentren suchen in der gespeicherten Liste von Begriffen, was da unter ‹Butter› festgehalten ist. So entsteht nun auch bei B. eine Vorstellung. Aber: Es ist SEINE Vorstellung! Da steht nichts von ‹gesalzen›, nichts von ‹Cholesterin› und nichts von ‹Beeilung und Abfahrtzeit des Busses›. Balz denkt an die Butter, an seine geliebte Anna und an ihre Wünsche, die er gerne erfüllen will. Aber: Es ist SEINE Butter, SEINE Vorstellung von Anna, SEINE Vorstellung von ihren Wünschen. — Das wird wohl nicht tragisch enden, weil es nicht sehr wichtig ist, wie verschieden die Vorstellung von Butter ist. Stellen wir uns nun aber vor, Anna und Balz würden nicht über Butter, sondern über Liebe, Pflicht, Selbstverwirklichung, Rücksicht, Treue oder Lust reden! In einem solchen Fall wäre es doch so wichtig wie unmöglich, nicht bloß denselben Begriff zu verwenden, sondern mit dem Begriff auch denselben Inhalt zu meinen.
Dazu eine kleine Anekdote:
Mit dem bekannten und viel beschworenen Vergleichsverbot für Äpfel und Birnen hatte ich immer schon ein bisschen Mühe.
Meine Lehrerin sagte mir einst vor mehr als einem halben Jahrhundert: «Merke dir, Alberigo, Äpfel und Birnen darfst du nie — ich sage: nie! — vergleichen!»
«Wieso denn nicht?», fragte ich, denn ich war ja, wie man weiß, im Denken nicht der Schnellste.
«Ach Kind!», erklärte sie etwas genervt, «weil sie anders sind! Äpfel sind kugelrund und Birnen länglich, Äpfel sind säuerlich-süß und sauer bloß, wenn sie nicht reif sind, während reife Birnen honigsüß sind und unreife unangenehm pelzig. Und verschieden, mein Lieber, ist auch der Preis, den deine Mamma dafür beim Händler bezahlen muss!»
Sie hatte zwar nicht gerade eine sprichwörtliche Engelsgeduld mit mir, aber eine gewisse Beherrschtheit konnte man ihr auch nicht absprechen. Ich hingegen, wie man weiß, blieb stur und uneinsichtig!
«Woher soll ich», fragte ich bohrend weiter, «wissen, dass Äpfel kugelig sind und Birnen länglich? Woher, dass sie anders schmecken und nicht gleich viel kosten?»
Da riss ihr der Geduldsfaden: «Du Dickkopf! Woher du dies alles über den Unterschied zwischen Äpfeln und Birnen wissen sollst? Du brauchst sie doch bloß zu vergleichen!»
Die Komik der kleinen Geschichte fußt auf der Verwendung desselben Wortes für zwei verschiedene Bedeutungen: Zuerst bedeutet ‹vergleichen› ‹die beiden verschiedenartigen Dinge gleichsetzen›, dann aber: ‹die Verschiedenartigkeit dieser Dinge aufzeigen›.
Nummer 76:
Wir kennen wohl alle das Spiel ‹Schere, Stein, Papier›. Solche Spiele waren schon im alten Ägypten bekannt, wie wir aus Darstellungen in einem Grab in Theben wissen. Auch griechische Darstellungen eines solchen Spiels sind überliefert. Die Griechen nannten das Spiel ‹ἀρτιάσμος› (artiásmos), die Römer ‹ludere par impar› (Spielen um die gerade oder ungerade Zahl). Bei diesem Spiel, ‹Gerade und Ungerade›, musste, wie der Name sagt, erraten werden, ob die Fingerzahl gerade oder ungerade ist.
Im Römischen Reich entstand unter dem Namen ‹micare digitis› (Funkeln mit den Fingern) ein Spiel, das bis in die Gegenwart, obwohl heute nur noch selten, unverändert gespielt wird: Das ‹Morraspiel›! — Es geht mir nicht darum, die genauen Spielregeln, die ich sowieso nur ganz vage kenne, zu erklären. Im Wesentlichen mussten zwei Spieler sehr schnell mit den Fingern eine Zahl zwischen null und fünf zeigen und gleichzeitig die Summe der ausgestreckten Finger erraten. — Halten wir fest: 1. Die Zahl Fünf spielte dabei eine besondere Rolle. 2. Das Spiel, fast ausschließlich von Männern gespielt, war eine ziemlich lärmige und hitzige Angelegenheit. 3. Das Spiel, weil man dafür kein Brett, keine Spielkarten, keine Würfel oder sonstige Spielgeräte braucht, war bei norditalienischen Maurern, Bergarbeitern und Wegmachern, die seit dem 18. Jahrhundert in den deutschen Sprachraum emigrierten, sehr beliebt.
Die ‹Oeconomische Encyclopädie› ergänzt 1773 die Erklärungen zum Spiel und zu dessen Regeln mit folgender ethnologischen Erkenntnis: «Der Italiener liebt dieses Spiel mit gantzer Leidenschafft, und keine Verordnung kann den Unfug hemmen. Es ist unglaublich, mit welcher Schnelligkeit er es spielen kann, aber auch wie viel Gelegenheit es ihm zum Zanke, zum Händeln und zu Mordthaten giebt.»
Ich habe schon erwähnt, dass die Fünf in diesem Spiel eine besondere Bedeutung hat. Wenn sich also die Fünf (in norditalienischen Dialekten ‹cinc›, ausgesprochen ‹tschink›) ergab, schrie man: «Cinc! È la morra!», was für deutsche Ohren klang wie ‹Tschinggele Moore›, wobei ‹Tschingg› nichts bedeutete und eine Moore eine Sau ist.
So kam es, dass bis in die Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts in der deutschen Schweiz, im süddeutschen Raum und im grenznahen Österreich ‹Tschingg› eine despektierliche Bezeichnung für Italiener, selten für Spanier und Portugiesen war. Unter den Liebhabern der Bezeichnung gab es durchaus auch welche, die sich um sprachliche Differenziertheit bemühten. Ich erinnere mich an feine Nuancierungen wie: ‹Halbtschinggen› für Spanier und Portugiesen, ‹Fasttschinggen› für Tessiner (italienischsprachige Schweizer) und ‹Steinbocktschinggen› für Schweizer aus dem Kanton Graubünden.
Mich machte es wütend, wenn man meinen Vater oder meine Schwester ‹Tschingg› nannte, weil ich merkte, dass es ihnen weh tat. Ich selbst, das heißt, wenn es mich anging, habe schon als Kind auf Beschimpfungen mit Gleichgültigkeit reagiert. Ich dachte immer schon: «Das ist einfach eine falsche Bezeichnung, und dann ist es nicht mein Problem. Würde jemand sich denn ärgern, wenn man ihn ‹Bügeleisen›, ‹Tellerrand› oder ‹Radkappe› nennen würde?» Dass das Wort meinte, dass man mich hasste, wusste ich zwar, aber ich wusste auch, dass der Hass nicht im (lächerlichen) Wort lag und dass wer mich hassen wollte, mich auch hassen konnte, wenn er mich anders nennen würde.
Ich hatte mir sogar angewöhnt, wenn ich irgendwo meine Nationalität angeben musste, was sehr häufig vorkam, nüchtern und emotionslos ‹Tschingg› zu sagen. — Zu welchen bizarren Reaktionen dies zuweilen führen konnte, wird man in meinen ‹Geschichten ohne festen Wohnsitz› nachlesen können, wenn sie, hoffentlich bald, erscheinen. Hier nur eine davon: Der Schulzahnarzt musste, aus welchem klinischen Grund auch immer, meine Herkunft kennen, und als ich ihm ‹Tschingg› sagte, wurde er böse und schrie mich an, das sei eine Frechheit! Er habe diesen Ausdruck immer bloß für Leute gebraucht, die sich nicht zu benehmen wissen.
Das Wort wird nicht mehr verwendet. Viele kennen es nicht einmal mehr.