Der griechische Halbgott Magnes (Μάγνης), Sohn des Zeus und einer Menschenfrau namens Tia (Τια), ahnte wohl selbst nicht, welche Bedeutung sein Name dereinst für die Wissenschaften erlangen würde. Magnes war der Sage nach der erste König der nach ihm benannten Region Magnesia in der Ägäis. (Die Einwohner der Region heißen ‹Μάγνητες› [Mágnētes].) Da jedoch die außerehelichen Aktivitäten und die kurzlebigen, wilden, bizarren Liebschaften der griechischen Götter — allen voran diejenigen des olympischen Obergottes Zeus! — so häufig waren, dass die Mythologie es kaum schaffte, einen Überblick über die Ausbreitung und die demografische Entwicklung von Halbgottheiten zu wahren, ist über Magnes selbst nichts Weiteres bekannt und überliefert worden, als dass die besagte Region nach ihm benannt ist — und nicht einmal das ist wirklich sicher!
Erst im Hochmittelalter — also gut zweitausend Jahre später! — begann die Kenntnis zwar nicht seiner Person, aber doch wenigstens indirekt seines Namens, aus der Ägäis auszubrechen. Im fernen Abendland, vornehmlich in Italien, stellten nämlich Alchimisten an einem Stein, von dem sie (erst noch irrtümlich!) annahmen, dass er aus der Region Magnesia stammte, eine «magische» Kraft fest: Der Stein übte auf kleinere Bruchstücke desselben Steins eine höchst rätselhafte Anziehung aus, mit anderen Worten: er war magnetisch (auch wenn es noch lange dauern sollte, bis der Begriff ‹magnetisch› geprägt wurde). Was die Alchimisten auch bemerkten, war, dass Braunstein, der große Ähnlichkeiten mit dem vermeintlichen Stein aus Magnesia hatte, eben nicht magnetisch war. So kam man der Weltanschauung der Zeit entsprechend überein, dass der magische, starke, beseelte Stein männlich und der schwache, untätige, inerte weiblich sein musste! Den männlichen Stein nannte man ‹magnes masculini sexus›, den weiblichen ‹magnes feminei sexus›.
Ein Stab aus Magnesium
Die vollkommen falsche Überzeugung, dass die beiden Steine über ihr bloßes Erscheinungsbild hinaus eine tiefere Gemeinsamkeit hätten, hielt sich noch bis ins 18. Jahrhundert. Und als man aus den beiden Mineralien je ein chemisches Element isolierte, nannte man das eine Magnesium und das andere Manganesium. Als schließlich klar wurde, dass es sich auch bei den Stoffen um völlig verschiedene Elemente handelte, taufte man das Manganesium, um Verwechslungen zu vermeiden, um in Mangan.
Elektrolytisch raffiniertes, reines (99,99 %) Mangan
Noch länger dauerte es, bis man merkte, dass die rätselhafte magische Kraft weder mit dem Magnesium noch mit dem Mangan zu tun hatte, sondern mit dem Eisen, das nur im ersten Stein in wirksamen Mengen vorhanden ist. Den Namen hat das physikalische Phänomen des Magnetismus jedoch trotzdem von der Region Magnesia und indirekt von König Magnes bekommen. — Magnesium und Mangan sind in Physiologie, Pharmakologie und Chemie Elemente von großer Bedeutung und der Elektromagnetismus ist vielleicht das wichtigste Phänomen der modernen Physik überhaupt.
Übrigens ist das Wort ‹Elektron› auch von einem Stein abgeleitet, nämlich von ‹ἤλεκτρον› [élektron] (Bernstein). Bernstein ist ein seit Jahrtausenden in allen Hochkulturen auf der ganzen Welt bekannter und als Material zur Herstellung von Schmuck beliebter, glasartig klarer bis undurchsichtig gelb-oranger Stein. Es handelt sich dabei um fossiles Harz, das je nach Alter und Fundort sehr verschiedene physikalische Eigenschaften aufweist. Zu den eindrücklichsten und lange Zeit für magisch gehaltenen Eigenschaften von Bernstein gehört, dass der Stein sich durch Reiben beispielsweise an einem Fell oder an gewissen Textilien elektrostatisch aufladen lässt und ein elektrisches Feld erzeugt. Dieses Feld übt auf leichte Strukturen wie Haare, für uns heute selbstverständlich, eine Kraft aus, die jedoch antike Völker für eine mysteriöse Lebenskraft hielten. Erst recht waren die Menschen von den Zauberkräften des Bernsteins überwältigt, wenn das elektrische Feld so stark war und die Umgebung so feucht, dass es zu Entladungen und Funkenbildung kam.
Baltischer Bernstein – Rohsteine im Fundzustand
Die elektrische und die magnetische Wechselwirkung — zusammen: der Elektromagnetismus — sind das physikalische Phänomen, das wie nie ein anderes zuvor unsere Vorstellung und unser Verständnis der realen Welt prägt und bestimmt. Materie und Energie — das Einzige, wovon wir überhaupt eine irgendwie beschreibbare Imagination haben — sind durch die bekannte Formel E=mc2 miteinander verschränkt und ineinander überführbar. Somit ist fast alles, worüber wir sinnvoll reden können, letztlich elektromagnetisch und etymologisch — einmal mehr! — griechisch!
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Kommentare 2
Içh habe das E – Book jetzt heruntergeladen und bin begeistert. Ein sehr interessantes und spannendes Werk, das auf viele Aspekte des Lebens einen anderen Blick wirft. Ein Must have für jeden Sprachliebhaber. Vielen Dank dafür, Alberigo Tucillo!
Author
Oh, danke sehr, Silke! Es freut mich, dass dir die ‹Amuse-Bouche› gefallen. Du darfst selbstverständlich auch kritisieren, wenn dir etwas missfällt und natürlich erst recht, wenn du etwas entdeckst, was verbesserst werden muss!