Tabacchi

Nicht bloß Schein und Rauch

Alberigo Tuccillo Gesellschaft 4 Kommentare

Ich betrat den kleinen Laden (im Bild) einzig und allein, weil ich dachte, dass der Ladenbesitzer und ich vielleicht verwandt sein könnten. Es stellte sich heraus, dass die Ladenbesitzerin, Pina (Giuseppina) Coviello, die Witwe von Umberto Tuccillo ist, seinerseits Sohn von Fregattenkapitän der italienischen Marine Gaetano Tuccillo, der vor vielen Jahrzehnten nach seiner Pensionierung den ‹Sali & Tabacchi› von jemandem übernommen hatte, dessen Name die äußerst liebenswürdige und hochbetagte Donna Pina auf der Zunge hatte, der aber schließlich auch auf der Zunge blieb.

‹Sali & Tabacchi›, auf Deutsch ‹Salze und Tabakwaren› ist die Aufschrift auf dem Geschäftszeichen italienischer Tabakläden (Tabaccherie). Die Bezeichnung stammt daher, dass Salz und Tabak nach dem Gesetz n. 907 von 1942 und dem Gesetz n. 1641 von 1952 staatlich kontrolliert und deren Verkauf geregelt wurde. Das einstmals staatliche Monopol auf Salz und Tabak gibt es seit 1974 nicht mehr, aber die Bezeichnung auf den Geschäftszeichen ist teilweise geblieben. Um Tabakwaren zu verkaufen, wird allerdings noch eine Lizenz benötigt, die vornehmlich an pensionierte Beamte oder an Angehörige der Armee, der Polizei oder Feuerwehr im Ruhestand vergeben wird. In einer Tabaccheria werden neben Tabak auch Bus-, Tram- und U-Bahn-Fahrkarten, Briefmarken und Wertmarken für amtliche Anträge (valori bollati)* sowie Lotto- und Totoscheine (Totocalcio) verkauft. 

*(Dazu schreibe ich einmal einen gesonderten Artikel.)

Die vornehme Signora bat mich, auf dem einzigen Stuhl im winzigen Laden Platz zu nehmen. Wenige Minuten später kam der Junge von der Bar gegenüber mit einem Tablet und brachte zwei Kaffee (due caffè! In Neapel verwendet man den Ausdruck ‹espresso› nur, wenn man mit Touristen spricht) und zwei Sfogliatelle, und wir begannen aus dem Stammbaum ihres Mannes und aus meinem eigenen sämtliche Tuccillos durchzugehen, die uns in den Sinn kamen. Dabei stellte ich drei Sachverhalte fest: Donna Pinas Gedächtnis hielt Begebenheiten und Beziehungen umso klarer, deutlicher und verlässlicher fest, je weiter zurück sie in der Vergangenheit lagen. Zweitens: kein Tuccillo aus der Familie ihres Mannes hatte mit einem meiner Vorfahren zu tun. Drittens: die Linien und Spuren führten aber doch stets nach Portici, einer angrenzenden Stadt mit rund 52’000 Einwohnern.

Ich erzählte ihr, dass wir an der Uni im zweiten Jahr bei Professor Lurati eine kleine Forschungsarbeit über unseren eigenen Namen machen mussten und dass ich dabei herausgefunden hatte, dass Anfang 15. Jahrhundert in Ercolano, Nachbargemeinde von Portici, ein reicher Mann mit dem Vornamen Alberto lebte. Weil Alberto sehr großzügig und allgemein beliebt war, bekam er die Koseendung ‹-uccio›, also nannte man ihn Albertuccio, und da er sehr kleingewachsen war, verpasste man ihm zusätzlich den neapolitanischen Diminutiv ‹-illo›, also Albertuccillo. Wie man weiß, werden — nicht nur in Neapel — lange Namen auf eine erträgliche Länge gekürzt: Giuseppina zu Pina, Bernardina zu Dina, Vincenzo zu Enzo, Johannes zu Hans. So wurde aus Albertuccillo der erste Tuccillo und aller Wahrscheinlichkeit nach der Stammvater aller Tuccillos, die in Neapel Tabakwaren verkaufen, unterrichten, Steuern eintreiben, Gemüse anbauen, Schiffe kalfatern, Strafzettel unter die Scheibenwischer klemmen, oder in der Welt verstreut kuriose Blog-Artikel schreiben, Genome von Insekten sequenzieren, am Large Hadron Collider Neutrinos und Bosone jagen, Häuser entwerfen, Roboter bauen oder Bratsche spielen. 

Donna Pina war über die Etymologie so entzückt, dass sie mich fortan duzte, was für Initiierte und in jenem Umstand eine besondere Ehre ist. Ich meinerseits wechselte vom ‹Lei› zum ‹Voi›, eine obsolete Höflichkeitsform, die nur noch altmodische Leute wie ich für besonders nahestehende Respektspersonen verwenden. Donna Pina öffnete eine Schublade, nahm eine kleine, etwas kitschige Schildkröte aus falschem Silber und mit falschen Edelsteinen bespickt heraus, übergab sie mir mit einer andächtigen Geste und sagte: «Alberì, nimm diese Schildkröte! Sie wird dir immer Glück bringen. Und wenn du das nächste Mal nach Neapel kommst, erzählst du mir bitte, woher mein Name, Coviello, kommt.»

Aus dem Stegreif hätte ich nur sagen können, dass Coviello eine Figur der Commedia dell’Arte ist, meistens dümmlicher Partner von Pulcinella, aber ich sagte es ihr nicht und versprach, dass ich gewissenhaft nachforschen würde.

Die Schildkröte hat fürs Erste als Glücksbringer ziemlich gut funktioniert.

Kommentare 4

  1. Eine wunderbare Geschichte – wenn ich nicht wüsste, dass sie wahr ist, wäre ich geneigt zu glauben, es sei die 1002te Nacht gewesen (da ja von dieser an die Scheherazade zur Zuhörerin wird)…

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  2. Also als ich deinen Kommentar las du wirst von nun an Tabak verkaufen statt Bücher zu schreiben und das Foto des Tabak-Ladens sah, war es mir tatsächlich sofort klar, daB sofort danach eine Erklärung kommen würde. Meine Phantasie betrog mich nicht. Denn deine Erzählung stimmt beinahe mit meiner Vorausicht überein. Und dazu könnte man ja auch noch sagen…

    Man kann bestimmt in einen Tabak-Laden recht gut schreiben.

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      Danke, Margarita! Kennst du ‹Auggie Wren’s Christmas Story› von Paul Auster? Es ist bestimmt in andere Sprachen übersetzt erhältlich. Es behandelt genau das Thema, das du aufgreifst. — Danke für dein Feedback!

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