Als ich einmal vor vielen Jahren in Bludenz, in der südlichsten Ecke Vorarlbergs im Urlaub war, erzählte mir ein Kellner ein paar spöttische Witze über Schweizer; einer ging so: «Wie merkt man, dass ein Schweizer am Computer war? — Antwort: An den Tipp-Ex-Flecken auf dem Bildschirm!» Der Witz ist nicht nur blöd, obwohl völlig unerklärlicherweise erfolgreich — er wird auch in der Schweiz seit Jahren schenkelklopfend erzählt, bloß mit umgekehrten Vorzeichen: in der helvetischen Version ist nämlich der Einfaltspinsel, der die weiße Korrekturflüssigkeit auf den Bildschirm schmiert, der Österreicher. Der nicht immer völlig harmlose Austausch von eidgenössischen Foppereien und kaiserlich-königlichen Hänseleien hat eine lange Tradition.
Es scheint für schweizerische Wintersportbegeisterte beispielsweise nichts Entsetzlicheres zu geben, als österreichische Skifahrerinnen und Skifahrer siegen zu sehen. Wenn ein Franzose wie Jean-Claude Killy oder Italiener wie Gustav Thöni und Alberto Tomba reihenweise Medaillen holten, war es schmerzlich genug — gleichzeitig konnte man aber aufatmen: Es waren wenigstens keine Österreicher!
Als bekennender Wintersportverweigerer, als in der Schweiz in jeder Hinsicht integrierter italienischstämmiger Immigrant mit einer österreichischen Großmutter, als grundsätzlich an allen Ethnien und an allen Sprachen interessierter vollkommener Bilingue, als Kosmopolit und als Autor von ‹Geschichten ohne festen Wohnsitz›* hat mich der austrohelvetische Kleinkrieg nie sonderlich berührt. Andererseits war ich schon früh an Geschichte und an sprachlichen Kuriositäten interessiert, und der nach heutigen Kriterien höchst inkorrekte, manipulative und irreführende Unterricht in der Schule verleitete mich als Schulkind dazu, mir bizarre Erklärungen auszudenken.
*‹Geschichten ohne festen Wohnsitz›: https://buchshop.bod.de/geschichten-ohne-festen-wohnsitz-alberigo-tuccillo-9783756284061 — Bestellen oder downloaden und vor allem lesen!
Die Geschichte der Eidgenossenschaft wurde uns als eine Abfolge von Schlachten präsentiert, die mehrheitlich gegen die Habsburger geführt und durchwegs gewonnen worden waren, und Habsburger war ein enges Synonym zu Österreicher, so wie auch der böse Gessler, der vom lieben Tell verlangt, einen Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schießen und dann in der Hohlen Gasse verdientermaßen Tells Todespfeil in die Brust geschossen bekommt, selbstverständlich ein Österreicher sein musste.
Das erklärte für mich als kindlichen und unparteiischen Verfolger einer die Jahrhunderte überdauernde Feidseligkeit vieles: Wenn sich Eidgenossen und Habsburger schon 1315 am Morgarten gegenseitig die Schädel eingeschlagen hatten und diese Art von Auseinandersetzung zur jämmerlichen Gewohnheit geworden war, war es nicht erstaunlich, dass man inzwischen auf der Skipiste fortsetzte, was einst auf dem Schlachtfeld begonnen hatte. Und weil die Habsburger das Reich im Osten der Schweiz bewohnten, war mir auch klar, dass sie Österreicher genannt wurden und dass es die Schweizer gewesen waren, die ihnen diesen Namen gegeben haben mussten. Schließlich schien es mir nicht plausibel, dass ein Land sich selbst ‹Reich des Ostens› nennt, schon gar nicht, wenn es einst den Anspruch erhoben hat, obwohl vergeblich, den Westen auch zu beherrschen.
Ein nicht lösbar scheinendes Rätsel gab mir indessen der italienische Name des Landes auf: Austria! Das italienische Adjektiv ‹australe› bedeutet nämlich nicht östlich, sondern südlich, und das Irritierende daran war, dass sich Österreich nicht südlich, sondern nördlich von Italien befindet.
So ist es also nun an der Zeit, dem wunderbaren Land von Wolfgang Amadeus Mozart und Eva Lind, von Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard, von Ludwig Wittgenstein und Peter Hodina sowie unzähligen anderen endlich etymologische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen!
Beginnen wir damit, dass das Haus Habsburg, eine der mächtigsten europäischen Fürstenfamilien, nach ihrer Stammburg im heutigen Schweizer Kanton Aargau benannt und mitnichten identisch ist mit Österreich. Den Kanton Aargau gab es damals als politische Einheit nicht, wie es schließlich auch noch keine Schweiz gab. Was es jedoch bereits 200 Jahre vor dem Aufstieg der Habsburger gab, war der Name ‹Österreich›. In einem 996 in der Pfalz Bruchsal (Baden-Würtemberg) verfassten Dokument findet man die älteste bekannte schriftliche althochdeutsche Nennung des Namens als ‹Ostarrichi›. Im Dokument wird die Übertragung der ‹Marcha orientalis Bavariae› (östliche March Bayerns) an Luitpold, den Stammvater der später Babenberger genannten Dynastie. Das östliche Reich meinte folglich nicht, wie ich als Schüler vermutet hatte, ‹östlich der Eidgenossenschaft›, die es damals noch nicht gab, sondern ‹östlich von Bayern›. Im lateinischen Dokument von 996 ist über die ‹Marcha orientalis Bavariae› die Bemerkung angefügt ‹regione vulgari vocabulo Ostarrichi› (Gebiet, das in der Sprache des Volkes Ostarrichi genannt wird). Diese Urkunde wird heute im Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München aufbewahrt.
Die eigentliche Geschichte Österreichs als eigenständiger Staat und selbständig verwaltetes Territorium innerhalb des Heiligen Römischen Reiches begann 1156, als Kaiser Friedrich Barbarossa auf dem Hoftag in Regensburg die urkundlich erwähnte Markgrafschaft Österreich von Bayern loslöste und zum unabhängigen Herzogtum erhob.
Das Gebiet wurde zuweilen auch als ‹Ostland› oder ‹Osterland› genannt und wandelte sich spätestens seit dem 15. Jahrhundert zu ‹Österreich›.
Die lateinische Bezeichnung ‹Austria›, die seit dem 11. Jahrhundert in allen Dokumenten einheitlich und unverändert verwendet wird, geht jedoch nicht auf die lateinische, sondern auf die urgermanische Sprache zurück. Das althochdeutsche ‹austar› bedeutet so viel wie ‹östlich› oder ‹im Osten befindlich›. Bekannt ist beispielsweise die Göttin der Morgenröte ‹Austara› oder ‹Ostara›. Eng mit dem Wort ‹Austria› verwandt sind auch die Namen ‹Austrasien› und ‹Austrien› für das Ostfrankenreich beziehungsweise für das ‹Ostreich›. — Die Ähnlichkeit mit dem lateinischen Wort ‹auster› für ‹Südwind› und ‹terra australis› für ‹südliches Land›, was auch zum Namen Australiens geführt hat, ist rein zufällig.
Zur Namen-Herkunft der Schweiz: https://tuccillo.ch/die-namen-der-schweiz/
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Kommentare 2
Hätte ich schon damals in der Schule gewusst, wie ungemein unterhaltsam es sein kann, sich in vielerlei Dingen weiter zu bilden, dann wäre ich schlussendlich wohl doch noch auf der Uni gelandet! Was mir damals fehlte, waren Lehrer, die sich mit ähnlicher Begeisterung wie Du des jeweils zu vermittelnden Lehrstoffes gewidmet haben…
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Du bist so lieb, Sabina. Wahrscheinlich verdiene ich dein Lob nicht in vollem Umfang, aber es tut so gut, dass ich es einfach genüsslich schlürfe, ohne es weiter in Frage zu stellen! Und was das ‹sich in vielerlei Dingen weiter zu bilden› angeht, ist die Uni bloß ein Weg, ein Hilfsmittel dazu. Ich kenne viele, die ganz ohne Uni zu meinen wichtigsten Lehrerinnen und Lehrern geworden sind (meine Mamma, beispielsweise), und viele, die trotz Universitätsabschluss abgrundtief ungebildet geblieben sind. Ich habe durch deine scharfsinnigen Kommentare und klugen Fragen schon so viel von dir gelernt, dass mir akademische Grade völlig egal sind.