Wenn man in der aktuellen Alltagssprache von einem Quantensprung spricht, meint man eine Veränderung, meistens zugleich einen Fortschritt, der eine bestimmte Entwicklung — entweder durch eine plötzliche Einsicht oder durch ein längst nötiges entschlosseneres Anpacken und Einschreiten — innerhalb kürzester Zeit wesentlich verbessert und um ein sehr großes Stück voranbringt.
Wie es zu dieser unzutreffenden, durchaus falschen, sogar widersprüchlichen Verwendung und zur epidemischen Verbreitung dieses Begriffs in der Umgangssprache kommt, ist leicht nachzuvollziehen und zu erklären. Die moderne Physik — und die geheimnisvolle Quantenphysik, die das Denken in den Naturwissenschaften tiefgreifend verändert hat, erst recht — übt eine starke Faszination auf fast alle Menschen aus. Darüber hinaus verführt eine andere Faszination, nämlich die der Technik! Um das unfassbar Kleine in der Welt der Quantenphysik zu studieren, werden unfassbar große Maschinen gebaut; die größten Maschinen der Menschheitsgeschichte, etwa der Teilchenbeschleuniger des europäischen Kernforschungszentrums CERN in Genf. Und sowohl unvorstellbar riesige Energiemengen wie auch eine unvorstellbare Präzision im Denken und in dessen Anwendung sind nötig, um zu den neuen Erkenntnissen vorzustoßen, an denen wir alle genauso sehr und genauso wenig beteiligt sind wie am heldenhaftesten Sieg unserer Fußball-Nationalmannschaft. — Das ist wahrscheinlich der psychologische Hintergrund der Beliebtheit des ziemlich unglücklichen Begriffs Quantensprung.
Für den vermeintlich sachlichen Hintergrund, vor dem der Gedanke entstanden ist, kann man bestimmt keine Lanze, aber vielleicht doch wenigstens eine (klitzekleine) Lanzette brechen. Immerhin stimmt es, dass Quanten nicht allmählich anwachsen, nicht nach und nach immer wirksamer werden, bis sie sich voll entfalten. Quanten sind da oder sind nicht da. Die Zeit zwischen Nicht-Quant und Quant ist null. Deshalb ist es nicht ganz unverständlich, dass man auf die Idee kommen kann, eine radikale Änderung, eine massive Verbesserung, einen entscheidenden Durchbruch einen Quantensprung zu nennen. Doch aus demselben Grund muss bemerkt werden, dass bereits der Tropos vom Sprung nicht ganz passend ist. (Und dies muss auch den Physikern gesagt werden! Nicht, weil sie es nicht wüssten, sondern weil sie trotzdem von einem Sprung reden, obwohl sie besser als alle andern wissen, dass das Bild falsch ist.) Ein Sprung — gleichgültig, ob man den in der Schüssel oder den einer Katze meint, mit dem sie eine Maus zu erwischen hofft — ist ein Vorgang; ein sehr schneller zwar, aber doch ein Vorgang, der eine Zeitdauer hat, die größer ist als null. Die Katze, die zum Sprung ansetzt, beugt zunächst ihre Glieder so, dass sich ihr Körper geringfügig in umgekehrter Richtung bewegt. Dann kontrahiert sie ihre Muskeln und beschleunigt ihren Körper, hebt vom Boden ab und im Flug verändert sie die Position ihres Körpers dergestalt, dass die Glieder, die eben noch der positiven Beschleunigung dienten, bereit sind für die Landung, für die negative Beschleunigung beziehungsweise für das Greifen der Beute. Ein Sprung in einem harten Material wie Glas oder Keramik breitet sich zugegebenermaßen noch schneller aus. Aber auch der hat eine Dauer, wenngleich eine äußerst kurze.
Dies ist aber nicht der Grund, wieso man den Begriff Quantensprung nicht verwenden sollte. Die Sprache lebt schließlich von Bildern, die nicht ganz zutreffend sind. Kein Mensch stößt sich daran, wenn wir sagen, dass wir etwas ‹blitzschnell› erledigen, auch wenn bei keiner Erledigung auch bloß annähernd Geschwindigkeiten wie die einer elektrischen Entladung erreicht werden.
Solange die Sprachbilder nicht genau das Gegenteil von dem Ausdrücken, was man meint, oder solange man sich dessen bewusst ist und wenigsten ironisch meint, was man mit dem Widerspiel ausdrückt, ist aus sprachlicher Sicht wenig einzuwenden.
Wenn man sich jedoch nicht vergegenwärtigt, vielleicht auch gar nicht weiß, dass ein Quant die kleinstmögliche (!) Veränderung ist und den Quantensprung heranzieht, um eine überraschend große Veränderung zu beschreiben, benützt man ein sogenanntes Autoantonym (sich selbst widersprechender Begriff), auch Januswort genannt, ein Wort, das genau das Gegenteil von dem ausdrückt, was es ausdrücken möchte.
In der physischen Welt scheint es tatsächlich bei keiner Größe eine unendlich fortzusetzbare Teilbarkeit zu geben. Strecken sind nicht unendlich lang teilbar, Masse ist nicht unendlich lang teilbar, Zeit nicht unendlich lang teilbar, elektrische Ladung ist nicht unendlich lang teilbar.
Es existiert keine halbe elektrische Elementarladung, es gibt keine kleinere Energiemenge als eben das kleinstmögliche Energiepaket, es gibt nicht einmal eine Zeitdauer, die kürzer wäre als 1.826·10-86 Sekunden, es gibt keinen Raum, der kleiner wäre als 4.224·10-105 m3 und es gibt keine kürzere Strecke als 1.616·10-35 m — das absolut Kleinste, nicht mehr weiter Teilbare von etwas ist eben ein Quant! Aber das hat uns im Leben alles nicht zu kümmern, auch dann nicht, wenn wir irgendeinen Fortschritt mit einer Superlative würdigen möchten, so wenig wie wir uns darum kümmern müssen, aus wie vielen Sandkörnern der Strand besteht, wo wir gerade Ferien machen.
Ein Quantensprung, immerhin, wäre eine gewisse Zurückhaltung in der Verwendung völlig widersinniger Metaphern.