Quipus

Alberigo TuccilloGeschichte, Sprache, Wissenschaft 3 Kommentare

Viele Kulturen haben schon früh ein Schriftsystem entwickelt, um Information festzuhalten und eine Kommunikation vom räumlichen und zeitlichen Zusammentreffen von Sender und Empfänger unabhängig zu machen. Die Inka im präkolumbianischen Südamerika gingen einen eigenen und einzigartigen Weg, um Information zu konservieren. Die Archäologie hat eine große Menge dieser Konserven in unsere Tage gerettet. Leider aber besitzen wir den Dosenöffner nicht, um an die konservierten Botschaften heranzukommen. Doch auch wenn wir nicht verstehen, welche Informationen sich in den so genannten ‹Quipus› [kipus] verbergen, hat die Semiotik, eine Unterabteilung der Linguistik, bereits Interessantes herausgefunden. Das wollen wir uns einmal genauer anschauen.

Die ältesten bekannten Schriftsysteme sind die sumerische Keilschrift und die ägyptischen Hieroglyphen, die vor 6000 bis 5000 Jahren entstanden sind. Die Keilschrift wurde in Mesopotamien auf Tontafeln geritzt und entwickelte sich aus einer früheren Form, die als Proto-Keilschrift bekannt ist. Geringfügig später, aber völlig unabhängig davon entstanden in Ägypten die Hieroglyphen.

Mesopotamische KeilschriftÄgyptische Hierogyphen

In China fand man in Rinderknochen und auf Schildkrötenpanzer eingeritzte heute noch lesbare Schriftzeichen, die um 1200 v. Chr. eingraviert worden waren, was das chinesische Zeichensystem zur weltweit längsten ungebrochenen Schrifttradition macht.

Um 1000 v. Chr. entstand ungefähr im heutigen Libanon, Syrien und Israel das protosinaitische Alphabet, aus dem sich bald das phönikische Alphabet entwickelte. Das phönikische Alphabet war dann die Basis für das arabische, hebräische, griechische, etruskische, lateinische und einige weitere Alphabete.

Antike chinesische SchriftPhönikische Schrift

Die älteste bekannte indische Schrift ist die Indusschrift, die etwa 2500 bis 1900 v. Chr. verwendet wurde, aber bisher nicht entziffert ist. Die älteste entzifferte und weit verbreitete Schrift ist die Brahmi-Schrift, die seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. existiert und die Grundlage für viele heutige Schriften, wie die Devanagari-Schrift, bildet.

In Mesoamerika entstanden die Schriftsysteme ebenfalls um 1000 v. Chr. und selbstverständlich völlig unabhängig von den afrikanischen, asiatischen und europäischen kulturellen Leistungen. Der wahrscheinlich älteste bekannte Schriftbeleg, der Cascajal-Stein der Olmeken (Logogramme), wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auf 1000 bis 900 v. Chr. datiert (aber der Text ist noch nicht entziffert). Die Maya-Schrift entwickelte sich ebenfalls früh, mit den frühesten bekannten Zeugnissen aus dem 3. Jahrhundert v. Chr.

Alte indische SchriftMaya-Schrift

Die Inka schrieben, wie bereits gesagt, im klassischen Sinn nicht. Ihre kulturelle, wissenschaftliche, politische und religiöse Überlieferung war vor allem mündlich. Aber sie hatten dennoch gewissermaßen einen Schriftersatz, mit dem sie vor allem Zahlen, aber sehr wahrscheinlich auch sprachliche Informationen so verlässlich und genau kodieren konnten, dass das System über Jahrhunderte in der militärischen und zivilen Verwaltung Verwendung fand: Die oben bereits erwähnten Quipus.

Ein ‹Quipu› besteht aus einer Hauptschnur, an der viele farbige Schnüre mit Knoten hängen. Die Knoten und ihre Anordnung kodieren Informationen. Es wurden verschiedene Knotentypen verwendet (einfache Knoten, Doppelknoten, Achterknoten, lange Knoten). Die Positionen der Knoten entlang der Schnur sind dezimal gegliedert — dies gilt als gesichert! —, was nicht bloß auf ein Stellenwertsystem schließen lässt, sondern auch darauf, dass es sich um dasselbe Stellenwertsystem handelt, das wir heute verwenden. Auch die Farben, die Materialien und die Drehungen der Schnüre hatten ziemlich sicher eine Bedeutung.

Als die spanischen Eroberer mit der völligen Unterwerfung der Inka im Jahr 1532, als Francisco Pizarro den Inka-Herrscher Atahualpa gefangen nahm. Darauf folgte der Fall der Hauptstadt Cusco im November 1533, doch der letzte Widerstand wurde erst 1572 mit der Eroberung von Vilcabamba gebrochen. Während dieser ganzen Zeit war das Wissen über das Quipus-System zumindest in der Führungsschicht der Quechua-Gesellschaft (‹Quechua›, weil das Wort ‹Inka› nicht das Volk bezeichnet, sondern bloß den Herrscher) noch fest verankert. Doch die Okkupanten zerstörten bis auf etwa 600 erhaltene fast alle Quipus und verboten deren Gebrauch. Darüber hinaus wurden die wenigen von spanischen Mönchen verfassten Schlüsseltexte, welche versuchten, das von den Quechua erworbene Wissen für die Nachwelt zu bewahren, ebenfalls vernichtet. So ging binnen zweier Generationen die Kenntnis komplett verloren, die mysteriösen Botschaften zu lesen.

Aktueller Stand der Forschung: Mehrere südamerikanische Teams, aber auch asiatische, australische, europäische und US-amerikanische wie Gary Urton von der Harvard University versuchen mithilfe von Computermodellen, Quipus als ein strukturiertes Informationssystem zu analysieren. Dabei scheinen einige Quipus auch Orts- oder Personennamen zu enthalten, was auf eine rudimentäre Schriftähnlichkeit hindeuten könnte. Die Vermutung, dass Quipus über die mathematisch quantitativen Informationen hinaus auch narrative Inhalte festhalten, gewinnt immer mehr an Fundiertheit.

Kommentare 3

  1. Hatten die nordamerikanischen Ureinwohner an der Atlantikküste (Algonkin resp. Haudenosaunee) nicht etwas ganz ähnliches, nämlich die sog. Wampum-Gürtel aus winzigen, röhrenförmigen Muschelperlen? Soviel ich mich erinnere, wurden die verschiedenen Muster ebenfalls für Aufzeichnungen von Ereignissen etc. verwendet.

  2. Post
    Author

    Danke für die Anregung, Sabina. Darüber weiß ich (noch) zu wenig, werde aber der Sache nachgehen. Ich habe eine vage (und vielleicht trügerische!) Erinnerung: nämlich, dass es sich dabei nicht um eine Kodierung im Sinne eines Systems von Zeichen und Regeln handelte, sondern um konventionelle Symbole, die man bereits kennen musste, um sie zu verstehen; etwa so wie die Freiheitsstatue die Freiheit der Französischen Revolution symbolisiert und deshalb von Frankreich an die USA geschenkt wurde, was jedoch trotz der sehr starken Symbolwirkung zuerst bedingt, dass man um die Tatsache weiß, dass es ein Geschenk der Franzosen ist und dass die Franzosen meinen, sie seien es, die ‹Liberté, Égalité und Fraternité› erfunden hätten.
    Aber wie gesagt: Ich weiß darüber wirklich noch sehr, sehr wenig!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert