Rasse und Recht

Alberigo Tuccillo Gesellschaft, Wissenschaft

Über etwas mehr als drei Jahrhunderte hat man versucht, mit hanebüchenen und völlig an den Haaren herbeigezogenen Rassentheorien die Verbrechen zu rechtfertigen, die von wirtschaftlich, militärisch und technologisch stärkeren Bevölkerungsgruppen an Ethnien verübt wurden und immer noch verübt werden, die der Arroganz und der abscheulichen Grausamkeit einer selbsternannten Herrenrasse zu wenig entgegenzusetzen vermögen. Einige dieser unterlegenen Menschengruppen, zum Beispiel die Tasmanier, wurden sogar komplett ausgelöscht. Andere hat man physisch zwar nicht vollständig ausradiert, aber man hat ihnen ihren Lebensraum, ihre Lebensweise, ihre Bräuche, ihre Sprache, ihre Identität, letztlich ihre Welt und ihr Leben als Gemeinschaft genommen.

Obwohl sich viele verschiedene wissenschaftliche Disziplinen seit vielen Jahrzehnten direkt oder indirekt mit der Frage der vermeintlichen menschlichen Rassen auseinandergesetzt haben und — vor allem durch ihr Zusammenwirken — zu immer deutlicheren Erkenntnissen, schließlich zu erdrückenden Beweisen dafür gekommen sind, dass keine einzige Beobachtung, keine Messung, kein Fund je eine Berechtigung geliefert hätte, um überhaupt die Hypothese aufzustellen, die Spezies Homo Sapiens ließe sich in Rassen unterteilen, ließen sogar namhafte Wissenschaftler nicht ab, die Chimäre zu füttern.

Die Gentechnik, die Genetik und die Mathematik haben das Thema nun endgültig vom Tisch gefegt. Die Gentechnik hat mit der Sequenzierung der menschlichen DNA die Möglichkeit geschaffen, die Geschichte der menschlichen Migration vom afrikanischen Ursprung über den ganzen Planeten unanfechtbar zu beschreiben. Die Genetik hat den Beweis erbracht, dass alle Menschen des Erdballs, die heute leben oder in den vergangenen 50’000 Jahren gelebt haben, sich in 99.9% ihres Genoms nicht unterscheiden und dass gleichzeitig die genetische Varietät sogar abnimmt, je weiter man sich vom Ursprungsort der Spezies, nämlich von Zentralafrika entfernt. Die Mathematik hat schließlich gezeigt, dass dies — obwohl es sich gegen die Intuition stemmt — bei der Ausbreitungsgeschwindigkeit, mit der die Menschheit die Erde erobert hat, gar nicht anders hätte laufen können.

Wir wissen heute, dass zwei zufällig ausgewählte Gorillas, die ihren Lebensraum fünf Kilometer voneinander entfernt haben, sich genetisch stärker unterscheiden als zwei ebenfalls zufällig ausgewählte Menschen, die in einer Entfernung von fünftausend Kilometern zueinander leben. Und niemand käme — was bloß von gesundem Menschenverstand zeugt! — auf die Idee, die beiden Gorillas verschiedenen Rassen zuzuordnen.

Das leidige Thema wäre nun also ein für allemal zusammen mit dem Phlogiston, mit dem Stein der Weisen, mit der flachen Erde und mit dem wiedergeborenen Elvis ins Kabinett der bizarren Ideen der Vergangenheit zu verbannen. Doch mir geht es in diesem Artikel eigentlich um etwas ganz anderes.

Auch wenn die schräge Idee der menschlichen Rassen nun endlich aus der Welt geschafft ist, der Rassismus ist es halt noch lange nicht, denn der Rassismus war lange vor der Idee der Rasse da! Es ist ja nicht so, dass die irrige Annahme, es gäbe verschiedene menschliche Rassen, den Mächtigen als eine zwingende Folge die Frage aufgeworfen hätte, wie denn diese Menschen, von denen man annahm, sie seien auf unterschiedlichen evolutionären Entwicklungsstufen stecken geblieben, zu behandeln wären und welche Rechte man ihnen allenfalls einräumen sollte. Das Gegenteil war der Fall: Der Rassismus entstand ja überhaupt erst dann, als es nicht mehr ganz selbstverständlich schien, dass man Länder eroberte, Völker unterjochte, manchmal auch vernichtete, ausmerzte, ausrottete, wenn es den Aggressoren irgendwelche Vorteile brachte. Weder die Pharaonen, noch Alexander der Große, noch die römischen Kaiser, noch die Hunnen brauchten irgendwelche Theorien, um ihre Raubzüge, Brandschatzungen und den praktizierten Genozid zu begründen. Solange man einen Kriegsgott und Untertanen hatte, die vom Regenten genau das erwarteten und verlangten, brauchten weder Herrscher noch die Bevölkerung sich über die Taxonomie derer den Kopf zu zerbrechen, die sie niederzumetzeln gedachten. Julius Cäsar und Cassius Clay, alias Mohammed Ali haben sogar den Brauch gepflegt, den Besiegten zur Veredelung des eigenen martialischen Triumphs besonders zu würdigen und dessen Heldenhaftigkeit, Tapferkeit, Mut, Weisheit und Intelligenz zu würdigen. Der Eroberungskrieg war lange Zeit etwas so Normales, wie das Jagen, wie das Schlachten von Masttieren, wie die Erte vom bebauten Feld einzufahren, wie das Halten von Sklaven und sich deren zu entledigen, wenn sie nichts mehr taugten oder aufmüpfig wurden. Erst als einem der Kriegsgott abhanden kam und man einen Gott schöpfte, der beim Töten — vor allem beim Morden aus materialistischen Beweggründen — manchmal ein bisschen die Nase rümpfte und das Wort ‹Frieden› eigentlich eher positiv besetzte, begann man allmählich (obwohl es noch erstaunlich lange dauerte, bis man die perverse Lösung fand) nach einem Prinzip zu suchen, das als Vorwand dienen konnten, um weiterhin zu tun, was man seit jeher getan hatte. 

Man fand zwei Prinzipien: Entweder waren die Menschen, die man angreifen, benachteiligen, ausnützen, berauben oder vernichten wollte, eine Gefahr für Gott selbst, weil sie nicht an die Jungfräulichkeit seiner Mutter glaubten, nicht nach Mekka ausgerichtet beteten, den Messias ans Kreuz genagelt hatten oder das Frühstücksei von der falschen Seite her aufschlugen, und weil Gott offenbar zu schwach ist, die Angelegenheit selber zu regeln, musste man ihn beschützen, indem man Gottes Feinde bekämpfte. Oder — noch viel besser! — man fand heraus, dass die Menschen nicht alle gleich viel wert sind! Wenn Gott selbst es ab und zu durchaus schätzte, wenn man ihm ein Lamm opferte, war er doch sicher nicht ganz so böse, wenn man einen Unterschied machte zwischen einem richtigen und einem minderwertigen Menschen! Da kamen die Rassentheorien gelegen! 

Eine kleine Zwischenbemerkung: Rassisten vertreten die Ansicht, dass augenfällige Unterschiede zwischen den Menschen die Unterscheidung von Rassen zwingend mache. Dem ist entgegenzuhalten: Erstens die augenfälligen Unterschiede machen von den genetischen Unterschieden 0,8% aus. Wir sehen die Farbe der Haut, der Augen, der Haare, die Form der Stirn, des Kinns, meinetwegen auch den Körperbau. Wir sehen jedoch nicht die viel wichtigeren und bedeutsameren Eigenschaften wie: Blutgruppen, Form der Leber, Enzyme, die den Metabolismus regeln und in Gang halten, neuronale Ausbildung, Gedächtnis, Intelligenz, spezielle Begabungen, spezielle Unzulänglichkeiten, Dysfunktionen, Neigungen, psychische und physische Prädispositionen etc. — Nun, diese 99,2% an unendlich viel bedeutsameren Unterschieden, die gibt es freilich auch, aber die sind nicht topografisch verteilt: Die Blutgruppen, die musikalische Genialität und Dummheiten wie der Rassismus treten in allen Ethnien mehr oder weniger gleich oft auf! — Und: Das schlagendste Argument gegen die angebliche Augenfälligkeit der rassischen Unterschiede liefern die Rassisten selbst! Wenn es, wie sie behaupten, augenfällig wäre, dass minderwertige Rassen sichtbar und erkennbar minderwertig sind, wozu um alles in der Welt bräuchte es (gerade für Rassisten!) einen Judenstern?!

Um den Bogen zu schließen, möchte ich zu meiner Befürchtung zurückkehren, die ich oben angetönt habe. Die Rassisten wird wissenschaftliche Evidenz wenig beeindrucken. Sie werden weiterhin glauben, was sie eben glauben wollen, und in der Vernunft schlechthin das teuflische Instrument des Feindes sehen, der sie um ihre Privilegien bringen will. Was mir aber zu sagen wichtiger ist als alles, was ich dargelegt habe, ist das Folgende:

Selbst wenn es verschiedene Menschenrassen gäbe, gäbe es keinen einzigen philosophischen Ansatz, um diesen Menschen nicht dieselben Rechte anzuerkennen und angedeihen zu lassen wie allen anderen Menschen auch! Und wenn wir den Neandertaler nicht schon ausgerottet hätten, würde ich dafür kämpfen, dass auch seine Würde unantastbar ist.

Die Menschenrechte sind 2500 Jahre alt! Wir werden sie wohl nicht von einer augenfälligen Horde bildungs- und evolutionsresistenter Mutanten verheeren lassen.