Corona-Virus COVID-19

Respekt gegen Panik

Alberigo Tuccillo Gesellschaft, Wissenschaft

Ich habe mir eben den YouTube-Beitrag vom 13. März 2020 auf dem Portal ‹Punkt.PRERADOVIC› angeschaut: Der deutsche Lungenarzt und Gesundheitsexperte Dr. Wolfgang Wodarg kritisiert darin in einem Interview die Corona-Virus-Maßnahmen der Politik. Es gebe seiner Meinung nach überhaupt keinen Grund zur Panik, meint er, ohne allerdings zu erwähnen, wer denn von ihm aus gesehen je behauptet haben soll, dass Panik jetzt genau das Richtige sei. Er vermisse auch eine wissenschaftliche Debatte, klagt er weiter, versäumt es allerdings und verhindert sogar im selben Atemzug, eine solche wissenschaftliche Debatte wenigstens zu beginnen, indem er völlig unwissenschaftliche Äußerungen von sich gibt wie «Schauen wir doch mal, wie’s früher war». Früher? Wann denn früher, lieber Doktor? Was kann mit ‹früher› gemeint sein bei einer Virus-Mutante, die es erst seit ein paar Monaten überhaupt gibt und deren Eigenschaften und Verhalten nur nach und nach in einer weltweiten vorbildlichen  Zusammenarbeit nie zuvor gekannten Ausmaßes und in einem fiebrigen Wettlauf gegen die Zeit erforscht werden?

Die Panik, die Wodarg eigentlich löblicherweise bekämpfen möchte und die niemandem nützt außer vielleicht dem Virus selbst, wird durch Verunsicherung ausgelöst! Und eben gerade zum Schüren dieser Verunsicherung trägt Wodarg bei, wenn er wirklich kompetenten Virologinnen und Virologen, Mathematikerinnen und Mathematikern in den Rücken fällt, nachdem sie sich endlich und mühsam genug bei der Politik, die sonst gewohnheitsmäßig auf Forderungen der Vernunft und der echten Wissenschaft eher mit Bocken und mit pubertärem Trotz reagiert, Gehör verschafft haben.

Es tut mir leid, dies sagen zu müssen, aber ich finde das, was dieser sehr charismatische und äußerst sympathische Arzt in diesem YouTube-Beitrag sagt, schlicht verantwortungslos! Der Mann scheint noch nicht begriffen zu haben, worum es denn geht! Es geht doch nicht in erster Linie um die wirkliche oder vermeintliche Gefährlichkeit dieses Virus für die Fitten und sonst Gesunden! Nicht im Geringsten! Überhaupt nicht! — Es geht doch darum, dass die Bürgerinnen und Bürger aller Länder weiterhin die Treppe runter fallen, vom Fahrrad stürzen, eine Neuralgie oder einen Leistenbruch haben, einen Herzinfarkt erleiden, an Diabetes oder Krebs erkranken, ein Baby kriegen oder eine Lebensmittelvergiftung, oder ihnen im Labor ein Spritzer ätzender Substanz ins Auge gerät, jemand einen Autounfall hat oder ein kleines Kind einen Lego-Stein verschluckt! Warum zum Teufel ist sich der seriöse Wissenschaftler eigentlich so sicher, dass all diese ‹normalen› Fälle jetzt freundlicherweise eine Pause einlegen und warten, bis es in den Spitälern wieder genug freie Betten, genug Platz, genug Kapazität, wieder genug Desinfektionsmittel, wieder genug Blutkonserven gibt, die inzwischen völlig erschöpften Pflegerinnen, Pfleger, Ambulanzfahrerinnen, Ambulanzfahrer, Ärztinnen und Ärzte wieder bei Kräften sind? — Warum ist es so schwer einzusehen, dass in dieser Angelegenheit nicht mehr ein Lungenarzt der wirkliche Experte ist (was er durchaus sein könnte, aber nicht bloß kraft seines Amtes!), sondern die Epidemiologinnen und Epidemiologen, die Mathematikerinnen und Mathematiker, die Logikerinnen und Logiker und vor allem das schamlos unterbezahlte Pflegepersonal, das jetzt schon — und nicht bloß in Norditalien — am Rande des Zusammenbruchs ist?

Wir müssen schlicht und ergreifend den Anstieg der Verbreitungskurve abflachen, die Ausbreitung des Virus verlangsamen! Die Krankheitsfälle müssen zeitlich verteilt werden. Die Entwicklung von Heilmitteln, Impfstoffen und deren dereinstige Bereitstellung müssen Zeit gewinnen. Das und nur das kann der Panik vorbeugen, die sonst unweigerlich aufkommen wird; dann nämlich, wenn Menschen sterben werden — nicht am Corona-Virus, sondern an einer Kieferhöhlenvereiterung, an einem geplatzten Blinddarm, an einer Entzündung an einer Gelenkprothese, an einer Hirnblutung, an einem Darmverschluss… weil der überlastete Apparat es nicht mehr schafft, dem betrieblichen ‹Normalfall›, der bereits vorher nur schwer zu bewältigen war und dem jetzt, im Zustand völliger Überlastung aller Strukturen, nach einer (sicherlich gut gemeinten, aber völlig irrationalen) Ansicht, so ganz locker und ganz nebenbei zu begegnen sei!

Als ich im vorletzten Sommer einen Unfall beim Rasenmähen hatte, musste ich auf der Notfall-Station viereinhalb Stunden mit höllischen Schmerzen warten, bis endlich ein Arzt frei war, um sich meiner anzunehmen. Nicht auszudenken, wie lange ich hätte warten müssen und welche Behandlung ich schließlich bekommen hätte, wenn zur selben Zeit ein paar Hundert Patienten mehr die Strukturen des Universitätsspitals beansprucht hätten.