Als ‹Retronym› bezeichnet man eine nachträgliche Benennung einer Sache, eines Sachverhaltes oder eines Ereignisses, die zum Zeitpunkt von deren Entstehung beziehungsweise Vorkommen aus chronologischen Gründen nicht möglich gewesen wäre. Oft wird durch eine Neubenennung von etwas Altbekanntem das Ältere von einer neuen Variante unterschieden. So hätte beispielweise der Ausdruck ‹akustische Gitarre› vor der Erfindung der ‹elektrischen Gitarre› keinen Sinn ergeben, denn alle Gitarren waren mit einem hölzernen akustischen Resonanzkörper versehen und wurden folglich einfach Gitarren genannt.
Der Ausdruck geht auf den von amerikanischen Journalisten in den Neunzehnhundertsiebzigern geschöpften, eingeführten und schnell popularisierten englischen Neologismus ‹retronym› zurück. Im deutschsprachigen Raum tritt der Begriff in den Achtzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts ebenfalls im Journalismus (vorwiegend in DER SPIEGEL) auf, setzt sich jedoch erst nach der Millenniumswende allgemein durch.
Einige Beispiele: Der Begriff ‹Mittelalter› (Lateinisch ‹medium aevum›) für den Zeitraum zwischen 600 und 1500 nach der Zeitrechnung konnte selbstredend für die Menschen des besagten Zeitraums keine Bedeutung haben, denn sie konnten nicht wissen, dass man während des Renaissance-Humanismus die Kunst, die Philosophie und die kulturellen Errungenschaften der Antike wiederentdeckt zu haben glaubte und dann die Zeit zwischen einem willkürlich festgelegten Ende der Antike und den ebenso willkürlich festgelegten Ende dieser vermeintlichen Zwischenzeit ‹Mittelalter› nennen würde. — Dasselbe gilt natürlich für die Antike selbst, die sich selbst nicht Antike nennen konnte, und für die ‹Zeit vor Christus›, da vor Christus niemand ahnen konnte, dass Jahrhunderte nach Christus jemand die historisch nirgendwo belegte Geburt Christi ohne jeglichen Beweis oder auch bloß Hinweis auf die Wintersonnenwende eines aleatorisch gewählten Jahres festlegen und darauf die heute gängige Zeitrechnung aufbauen würde.
Die Menschen im Oströmischen Reich, also von 395 bis 1453, bezeichneten sich selbst schlicht als Römer und ihren Staat als ‹Βασιλεία τῶν Ῥωμαίων› [Basileia tōn Rhōmaiōn] (Reich der Römer). Erst im 18. Jahrhundert begann es westeuropäische, vor allem französische Intellektuelle um Charles de Montesquieu zu stören, dass sich Oströmer schlicht Römer nannten, und diese bezeichneten sie deshalb und fortan als ‹Byzantiner›, was sich schließlich im Westen auch durchsetzte.
Selbstverständlich konnten die Menschen im ‹Ersten Weltkrieg›, den sie damals den ‹Großen Krieg› und vielleicht vereinzelt nur ‹Weltkrieg› nannten, nicht wissen, dass es etwas mehr als zwanzig Jahre später erneut einen solchen grauenvollen Unsinn geben würde, den man den ‹Zweiten Weltkrieg› nennen würde, was dann zur Unterscheidung erst implizierte, dass es zuvor einen ersten gegeben hatte. Und erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnte man die Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten als ‹Zwischenkriegszeit› bezeichnen.
Auch technische Geräte bekommen oft nachträglich eine differenzierende Bezeichnung, nachdem eine Weiterentwicklung die Unterscheidung zwischen Altem und Neuem nötig macht. So bekamen die Begriffe ‹Stummfilm›, ‹Schwarz-Weiß-Film› und ‹Schwarz-Weiß-Fernsehen› überhaupt erst nach der Erfindung des Tonfilms, des Farbfilms und des Farbfernsehens einen Sinn, und die Speicherplatte des Computers wurde erst zur Festplatte, nachdem die flexiblen ‹Floppy-Disks› erfunden worden waren. Den Röhren-Verstärker nannte man erst so, als die Transistoren die Elektronenröhren abgelöst hatten. Für die analoge Fotografie hätte kein Grund bestanden, sie als solche zu bezeichnen, bevor es die digitale gab, wie es auch für den Begriff ‹Festnetz› erst durch die Mobiltelefonie einen Nennungsbedarf bekam.
Im Grunde ist auch beispielsweise Alexandre Dumas der Ältere, der Autor von fesselnden Romanen wie ‹Die drei Musketiere› und ‹Der Graf von Monte Christo›, Träger einer retronymischen Beifügung, die völlig überflüssig wäre, wenn sein gleichnamiger Sohn, statt ‹Die Kameliendame› zu schreiben, wie sein ebenfalls gleichnamiger Großvater General geworden wäre.
Weitere Beispiele wird nun jede und jeder zur Genüge finden (oder erfinden?) können!
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Kommentare 4
Sehr interessant und spannend! Wieder einmal etwas Neues gelernt und erfahren.
Vielen Dank dafür.
Author
Herzlichen Dank meinerseits für das Feedback!
Man lernt nie aus – und bei Dir macht das zusätzlich auch noch viel Spass! Dankeschön!
Ich bin es, der für die wohltuende Rückmeldung danken muss!