Rezensiertes Werk

Rezension: «Freiheit und Krisis» von Matthias Bertschinger

Alberigo TuccilloGesellschaft, Philosophie, Politik, Wissenschaft Schreibe einen Kommentar

Bertschinger, Matthias, «Freiheit und Krisis – Psychoanalyse des Autoritarismus und psychoanalytische Rechtsanthropologie», Schwabe, Basel 2020, 566 Seiten

Es ist schon bald ein Jahr verstrichen, seit das beachtliche und noch viel zu wenig beachtete Werk «Freiheit und Krisis» von Matthias Bertschinger bei Schwabe erschienen ist. Noch nie habe ich über den Notizen einer Lektüre und den Entwürfen einer Rezension so lange gebrütet, nach Formulierungen gerungen, verschiedene Kritikansätze und Konzepte entwickelt, verfeinert, verworfen, um schließlich ganz von vorn zu beginnen. Das lag nur zum Teil an intrinsischen Eigentümlichkeiten des Werks selbst. Darauf werde ich in der Folge selbstverständlich eingehen. Zum großen Teil lagen Schwierigkeiten und Verzögerungen auch am ungünstigen Zeitpunkt des Erscheinens: Der Ausbruch der Pandemie und das damit verbundene Aufflammen von echten und vermeintlichen politischen Diskussionen – fast zeitgleich mit der Buchvernissage – hoben jäh die Gewohnheiten und die üblichen Interessen einer geneigten Leserschaft ebenso aus den Angeln wie den Kritikbetrieb. Auf diese unglücklichen Startbedingungen für das Buch werde ich allenfalls gegen Ende meiner Rezension einige wenige Überlegungen hinzufügen, um Strategien vorzuschlagen, die dem Werk förderlich sein könnten, die Verbreitung und Bekanntheit zu erlangen, die es fraglos verdient.

Bevor ich mich jedoch anschicke, Matthias Bertschingers «Freiheit und Krisis» unter die Lupe zu nehmen, muss ich ein weiteres Mal, allerding bloß scheinbar, ausschweifen. Ich muss nämlich zuerst klar und deutlich machen, was für mich Kritik ist und worum ich mich beim Rezensieren stets bemühe; nicht, um Kolleginnen und Kollegen, die in anderer Überzeugung und nach anderen Methoden vorgehen, anzuschwärzen oder um mein eigenes Nest zu beschmutzen. Ich möchte meine Auffassung von Kritik bloß deshalb klären, weil ich vor diesem Hintergrund und in diesem Licht gelesen, gedeutet und verstanden werden will.

Wenn ich eine Kritik lese, ist das, was mich am allerwenigsten interessiert, ob das zu Kritisierende und Kritisierte der Kritikerin oder dem Kritiker gefallen hat. Das wird vielleicht erstaunen, aber ich versuche meine Auffassung vom Sinn einer Kritik anhand eines Beispiel zu erklären: Wenn ich in einer fremden Stadt ein gutes Restaurant suche und zu diesem Zweck den Gastronomieführer aufschlage, will ich nicht wissen, ob eine Gastrokritikerin oder ein Gastrokritiker in einem bestimmten Lokal gut gespeist hat, ob sie oder er die Atmosphäre angenehm fand und die Bedienung löblich! Ich will allein wissen, ob ich da so speisen kann, wie es mir schmeckt, ob ich mich da wohlfühlen würde und ob ich mit der Bedienung zufrieden wäre. Drum will ich in einer Kritik keine Urteile lesen, die ich selbst ja ganz anders fällen würde, sondern Beschreibungen, Erklärungen, Hilfestellungen, meinetwegen auch konkrete Warnungen, jedenfalls Informationen, die es mir ermöglichen, selbst und nach meinen eigenen Bedürfnissen zu entscheiden, ob ich das Buch, die Tonaufnahme, das Bild kaufen, eine Eintrittskarte oder einen Tisch reservieren oder eine Führung für eine Ausstellung buchen will. – Deshalb möchte ich die hoffentlich zahlreichen potentiellen Leserinnen und Leser an die alles andere als leichte, jedoch unbezweifelbar lohnende Lektüre von Matthias Bertschingers «Freiheit und Krisis» heranführen, für sie gleichsam einen Reiseführer erstellen, der in und durch ein Leseerlebnis begleitet, das jenseits von Konsens oder Dissens zu Bertschingers einzelnen Gedanken, Herleitungen und Schlüssen eine ungeahnte Flut an aktuellen und fundamentalen Problematiken ausleuchtet, die meines Erachtens niemanden unberührt und unbeteiligt lassen können – genauer: nicht unbeteiligt lassen dürfen!

Angesichts der unüberschaubaren Fülle an neuen Publikationen ist die erste Frage, die ich mir bei jeder Neuerscheinung stelle: «War es wirklich nötig, dieses Buch zu schreiben, es zu lektorieren, es zu drucken und damit Platz in Bücherregalen und eine ISB-Nummer zu besetzen?» – Und diese Frage kann ich sofort beantworten: «Es war nicht nur nötig, ‹Freiheit und Krisis› zu schreiben, das Werk ist dringend nötig, äußerst zwingend, unverzichtbar, muss bekannt werden und gebührende Verbreitung finden.»

Dieses vielleicht etwas überraschende Apodiktum zu erklären und es von seiner ganz und gar nicht intendierten provokativen Wirkung zu läutern, will ich nun versuchen.

Mit «Freiheit und Krisis» schafft Matthias Bertschinger das wissenschaftliche Fundament, um die von den etablierten Wissenschaften allzu lange vernachlässigten, zumindest nicht mit der nötigen Dringlichkeit angepackten Fragen nach dem Ursprung des Rassismus, der Diskriminierung, der Menschenfeindlichkeit, des Autoritarismus methodisch zu untersuchen. Dabei schafft der Autor für sein Werk zugleich eine neue literarische Gattung, was, wie wir sehen, auch vom Rezensenten fordert, den Ansatz der Kritik an das zu Kritisierende anzupassen. Das Buch ist im Vorfeld – wenn ich nicht irre, auch in dessen Präsentation durch den Verlag – als interdisziplinäres Werk bezeichnet worden, weil es die oben bereits erwähnten Fragen aus philosophischer, zum Teil aus theologischer (übrigens auch und äußerst interessanterweise atheistisch-theologischer!), aus psychoanalytischer, aus soziologischer, aus politischer und aus juristischer Sicht untersucht. Mit der Etikette ‹interdisziplinär› kann man sich also weitgehend einverstanden erklären, allerdings nur, wenn man eine Präzisierung vornimmt: Bertschinger geht es nämlich nicht darum, möglichst viele Disziplinen herbeizuziehen, um aus verschiedenen Richtungen ein gleiches Ziel anzupeilen und zu beweisen, dass man auf verschiedenen Wegen zu einem gleichen Ergebnis kommt – was freilich durchaus legitim und überhaupt nichts Neues wäre. Der Autor vereint, verbindet und vernetzt die verschiedenen Disziplinen und deren Ansätze und Methoden, gerade weil diese nur durch synchrones, syntopisches und synkretistisches Zusammenwirken die Grenzen dessen überwinden und überschreiten kann, was die einzelnen Wissenschaften zum großen Teil bereits erkannt, wenngleich nicht hinreichend vertieft haben. (Bertschinger spricht, im Rückgriff auf Heinrich Barth, oft von «Zusammenschauen».) Die Vernetzung der Disziplinen dient folglich nicht der gegenseitigen Bestätigung, sondern wird zum grundsätzlich und wesenhaft neuen Analyseinstrument, was «Freiheit und Krisis» an sich und bereits vor den damit gewonnen Erkenntnissen zu etwas Bahnbrechendem macht. Da sich nun Bertschingers Denken nicht zwischen den Disziplinen, sondern in ihnen allen, die einander bedingen und zueinander komplementär sind, gleichzeitig bewegt, wäre es angebrachter, statt von Interdisziplinarität von Metadisziplinarität zu reden.

Selbstverständlich sind gerade bei Denkern, die in mehreren der genannten Disziplinen und Wissenschaften ausgebildet und tätig waren, seit jeher Vernetzungen, gegenseitige Beeinflussungen und Einbeziehungen zwischen den Denkrichtungen und deren methodischen Vorgehensweisen festzustellen und nachzulesen. Bei Bertschinger ist diese Vernetzung jedoch nicht eine bloße Erweiterung des Instrumentariums, die sich aus den partikulären, vielfach sogar zufälligen Kenntnissen und Fähigkeiten ergeben, über welche die jeweiligen Forschenden verfügten, sondern die methodische Grundbedingung, mittels derer Erkenntnis erlangt und zugleich operativ angewandt werden kann – etwa in der Psychotherapie, in der Legislation, in der Jurisdiktion, in der Soziologie und in der Politik. Schließlich ist Bertschingers primäres Ziel nicht, sich in einen akademischen Diskurs einzumischen, um an einer tradierten philologischen Exegese Retuschen oder Verdeutlichungen vorzunehmen, sondern eine in kantschem Sinn ‹praktische› gesellschaftliche Wirkung und Umsetzbarkeit anzustreben – genauer: darauf hinzuweisen, dass Praxis sich dringend auf eine vertiefte Theorie beziehen muss, auf ein adäquates Menschenbild jenseits der Vorstellung, der Mensch sei in einem funktionalistischen Sinn einfach vorteilsgesteuert; und dass es für eine solche Vertiefung der Theorie dringend einer Synthese von Sozialtheorie und Psychoanalyse bedarf, aus welcher dann beide Disziplinen auch verändert hervorgehen.

‹Landkarte der Psyche› nach Matthias Bertschinger

Worum geht es nun eigentlich? – Die Fremdenfeindlichkeit, die Feindlichkeit gegenüber dem (sehr oft auch bloß vermeintlich) Andersartigen, die Intellektuellenfeindlichkeit und ähnliche Phobien, die idealtypisch sind für den Autoritarismus jeglicher Färbung, haben, wie Bertschinger schlüssig aufzeigt, ihren Ursprung in einer unbewussten, folglich nicht oder nur schwer kontrollierbaren Abwehr von Scham-, Angst- und Schuldgefühlen. In besagter Synthese von Philosophie, Psychoanalyse und einer atheistischen Theologie entwickelt Bertschinger ein Affektabwehr-Strukturmodell der Psyche, das Rassismus und Menschenfeindlichkeit verstehbar werden lässt. Fremden-, Schwachen- und Intellektuellenfeindlichkeit – die Kennzeichen jedes Autoritarismus sind – erweisen sich existenzial-psychoanalytisch, wie bereits erwähnt, als Angst-, Scham- und Schuldabwehr. Basierend auf einem Freiheitsbegriff, der das Traumatische nicht ausschliesst, lässt sich rationaler Sinn normativer Geltung auf hermeneutisch-anthropologischem Weg aufweisen und damit tiefer fundieren. Der Rechtssinn lässt sich positiv als Begegnung, Offenheit, Exposition, Erhebung der eigenen, unverfälschten Stimme und negativ als ein Nein zur Abwehr des Traumatischen, Absoluten – der Freiheit, wie der Begriff auch im Titel des Werks zu verstehen ist! – stellvertretend in anderen fassen.

Das Schuldgefühl bezieht sich auf das Ausbleiben der Selbstwahl (oder wie bei Wittgenstein auf das Ausbleiben der Hinnahme des Unabänderlichen), also nicht primär auf einzelne Verfehlungen, was theologischen Konzeptionen der Sünde gleicht, die in diesem Sinne betonen, dass nicht von Sünden (Mehrzahl) die Rede sein sollte (dass sich Sünde also als ein Sich-Verfehlen auf die ganze Lebenshaltung bezieht).

Diese individuellen psychologischen Keime, die zu persönlichen, gesonderten menschenfeindlichen Haltungen und Handlungen führen oder führen können, sind in sich stetig wandelnde gesellschaftliche Strukturen und Rahmen gebettet, die sie zeitweise hemmen und zeitweise begünstigen. So kommt es zeitweise zu einem scheinbaren Abklingen, einem Versiegen der gesellschaftlichen Phobien, zeitweise zu einem Aufflammen, zu einem ebenfalls nur scheinbar unvorhersehbaren Ausbruch. Und auch diese Interaktionen und Interferenzen zwischen psychischen, psychologischen, sozialen und soziologischen Dynamiken zeigt Bertschinger in meines Erachtens schlüssiger Weise auf. In den wenigen Fällen, in denen ich dem Räsonnement des Autors nicht nahtlos habe folgen können, wäre es mir stets möglich gewesen, mir vermittels der Quellen, die in vorbildlicher Weise allesamt angegeben sind, Gewissheit und Klärung zu verschaffen – was ich zugeben muss, nur selten, nur ganz am Anfang und später überhaupt nicht mehr getan zu haben. Und auch das hat einen Grund: Bertschigers Arbeit ist so sorgfältig, akribisch und die Schlussfolgerungen sind so sauber, dass er den Lesenden ein Maß an Vertrauen einflößt, das dazu verleitet, ab und zu eine Herleitung ungeprüft zu lassen und darauf zu vertrauen, dass Bertschinger selbst alle Prämissen und alle Deduktionen hinreichend reflektiert und kontrolliert hat.

Auf dieses auch durch Bertschigers sehr angenehme und gefällige sprachliche Virtuosität gewonnene Vertrauen sollten und werden sich einschlägige Fachpersonen freilich nicht verlassen. «Freiheit und Krisis» ist kein Evangelium und erhebt auch nicht den Anspruch, die Diskussion über die behandelten Argumente endgültig abgeschlossen und besiegelt zu haben. Im Gegenteil: Wenn mir meine Erinnerung keinen üblen Streich spielt, glaube ich sogar irgendwo gelesen oder gehört zu haben, dass Bertschinger selbst an seinem Werk weiterarbeiten und Veränderungen vornehmen würde, wären er und der Verlag nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt übereingekommen, diesen momentanen Stand der Forschung vorerst einmal zu publizieren. Doch selbst wenn ich mir Bertschingers Aussage über eine noch nötige Überarbeitung bloß einbilde, bin ich ziemlich sicher, dass es durchaus seinem Sinn und seiner Absicht entspricht, eine breite wissenschaftliche Diskussion auszulösen und einen Prozess einzuleiten, der bei allen Kurskorrekturen, die sich vielleicht als nötig erweisen werden, Auswirkungen auf gesellschaftliche Dynamiken haben wird.

Damit komme ich zum letzten Punkt meiner Besprechung: Für wen ist das Buch bestimmt? Wer sollte es lesen? Welchen Lesende nützt es? Und welche Lesenden nützen dem Buch? – Selbstverständlich ist «Freiheit und Krisis» keine leichte Lektüre, die man zur einfachen Unterhaltung genießt – auch nicht zur gehobenen Unterhaltung. Man muss den Kopf schon bei der Sache haben und dies sogar über längere Zeit. Andererseits will ich auch niemanden abschrecken, denn: wer diese Rezension gelesen hat und ihr einigermaßen mit Interesse gefolgt ist, verfügt über die Voraussetzungen, um das Werk mit Genuss und Gewinn zu lesen.

Wärmstens oder sogar dringend zu empfehlen ist das Besitzen, das Studieren, das wiederholte Konsultieren und Kritisieren des Buches indessen all jenen, die professionell mit der Materie zu tun haben: Philosophinnen und Philosophen, Psychologinnen und Psychologen, Juristinnen und Juristen, Politikerinnen und Politikern.

Dem Werk und dem Autor ist zu wünschen, dass zwischen Fachpersonen und einem breiteren interessierten Publikum ein fortdauernder Dialog entsteht, der in Freiheit einen Weg aus einer Krisis bahnt.

Ein Referat von Matthias Bertschinger auf YouTube

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