Vom Rad zur Radiologie

Alberigo TuccilloGeschichte, Sprache, Wissenschaft 2 Kommentare

Da die Erfindung des Rades die kulturelle und soziale Entwicklung der Menschheit verändert hat wie wenige technische Innovationen zuvor und danach, ist es nicht sehr erstaunlich, dass die wissenschaftlich rekonstruierten und zusammenhängenden indoeuropäischen Wurzeln ‹‪*rto-› (Rad) und ‹‪*ret(h)› (rollen, kullern, drehen) zu den fundiertesten und bestdokumentierten gehören und in allen indoeuropäischen Sprachen eine unvergleichliche Fülle von Wörtern und Begriffen hervorgebracht haben.

Aus den genannten Wurzeln ‹‪*rto-› und ‹‪*ret(h)› sind, wenn wir uns vorerst auf die deutsche Sprache beschränken, unmittelbar abgeleitet: ‹Rad›, ‹Rolle› (sowohl im Sinne von ‹Walze› oder ‹gerolltes Tuch, Gewebe, Papier› als auch im Sinne von ‹Figur eines Dramas›), ‹Roller›, ‹Roulade›, ‹Rollband›, ‹Rollladen›, ‹rund›, ‹runden›, ‹Rundung›, ‹rotieren›, ‹Rotor›, ‹Rotation›, ‹Radiant›, aber auch ‹gerade› (was für zwei zufällig identisch aussehende Wörter unterschiedlicher Herkunft und Bedeutung steht: für ‹nicht rund› und für das etymologisch nicht identische ‹kürzlich›). Die Menge der Wörter, die in allen indoeuropäischen Sprachen auf das Rad zurückzuführen sind, ist derart immens, dass wir mit Bestimmtheit in weiteren Artikeln immer wieder auf sie stoßen werden.

Nun aber über die Geometrie zur Anatomie und zur Medizin. Wir erinnern uns, wie man den Umfang eines Kreises, also eines Rades, berechnet: 2πr — dabei steht ‹r› für Radius. Selbstverständlich ist auch ‹Radius› etymologisch von Rad beziehungsweise vom entsprechenden lateinischen Wort ‹rota› — Italienisch ‹ruota›, Französisch ‹roue›, Spanisch ‹rueda›, Portugiesisch ‹roda›, Rumänisch ‹roată› — abgeleitet. Radius ist das lateinische Wort für Speiche, für jene Teile eines Rades, die Nabe und Felge starr verbinden. Radius ist aber auch das Wort für eine andere Speiche: für den daumenseitig gelegenen Unterarmknochen, der so heißt, weil er distal um die Ulna (Elle) rotiert, mithin die Rotation der Hand (Pronation und Supination) ermöglicht.

Die Radspeiche hat Lateinisch auch eine weitere Assoziation evoziert: Die in gleichmäßigen Bogenabständen in alle Richtungen von der Nabe zur Felge gehenden Speichen wirkten und wirken noch auf den Betrachter wie Strahlen, etwa Sonnenstrahlen in Kinderzeichnungen. Und tatsächlich ist ‹Strahl› eine weitere Bedeutung des Wortes ‹radius›; (Italienisch ‹raggio›, Spanisch ‹rayo›, Französisch ‹rayon›, Portugiesisch ‹raio›, Rumänisch ‹raza›). War ursprünglich nur sichtbares Licht gemeint, wurde damit später jede Art von elektromagnetischer ‹Radiation› bezeichnet, was Begriffe wie ‹Radiologie›, ‹Radiologin›, ‹Radiotherapie›, ‹Radiointerferometrie›, ‹Radioaktivität›, die Elemente ‹Radium› und ‹Radon›, weitere Wörter wie ‹Radionuklid›, ‹Radioisotop›, ‹Radiokarbon-Messung›, ‹Radiolumineszenz› u.a. generierte. — Obwohl es sich bei ‹Light Amplification by Stimulated Emission of Radiation› um ein Akronym handelt, steht doch das ‹r› in Laser für ‹radiation› und somit muss der ‹Verstärker von angeregten Lichtstrahlen› ebenfalls zur Familie der linguistischen Rad-Derivate gezählt werden.

Doch auch in anderen Bereichen begegnet man Abkömmlingen des protoindoeuropäischen Rades, die man ihm vielleicht nicht auf Anhieb zugeordnet hätte: dem ‹Radiator› (Heizkörper oder Kühler beim Verbrennungsmotor), dem Radio (Rundfunk-Empfang-Gerät), dem ‹Radar› (Ortungsgerät).

Auch andere Sprachen haben sich bei dem indoeuropäischen Stamm bedient: etwa Russisch ‹радиоактивность› [radioaktivnost] und Ukrainisch ‹радіоактивність› [radioaktyvnist] (Radioaktivität), sogar nicht indoeuropäische Sprachen wie Türkisch ‹radyoaktivite›, Finnisch ‹radioaktiivisuus›, Baskisch ‹erradioaktibitatea›, Ungarisch ‹radioaktivitás›.

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