Vom unglücklichen Stern zum Desaster

Alberigo TuccilloGesellschaft, Sprache Schreibe einen Kommentar

Ein Stern ist eine Gaskugel, die durch Schwerkraft zusammengehalten und dergestalt komprimiert wird, dass in deren Kern eine Kernfusion vorwiegend von Wasserstoff zu Helium einsetzt. Diese Fusion setzt Energie frei, die in Form von elektromagnetischen Wellen des gesamten Spektrums abgestrahlt wird, wodurch der Stern auch im sichtbaren Bereich leuchtet.

Unsere Sonne ist ein solcher Stern. In unserer Galaxie, der Milchstraße, gibt es zweihundert Milliarden Sterne. Alle Sterne, die wir am Nachthimmel von bloßem Auge sehen, sind Sterne der Milchstraße. Im beobachtbaren Universum gibt es tausend Milliarden Galaxien.

Diese Erkenntnisse sind sehr jung. Auf unsere emotionale Vorstellung der Welt und auf die Sprachbilder, die wir verwenden, um sie für uns selbst und in der Kommunikation mit anderen Menschen zu beschreiben, haben sie nur sehr eigeschränkte Bedeutung.

Auch nach Kopernikus, Galilei, Kepler und Newton geht jeden Morgen die Sonne auf und beschert uns am Abend spektakuläre Sonnenuntergänge. Kaum jemand verkneift sich, in Gedanken einen schönen Wunsch zu äußern, wenn nachts ein Sandkorn mit einer Geschwindigkeit von zehn bis siebzig Kilometern pro Sekunde in der Atmosphäre verglüht. Und auch wenn jede Gymnasiastin und jeder Gymnasiast heute fähig ist, die relativistische Zeitdilatation durch Gravitation und Geschwindigkeit zu berechnen, vertrauen sie doch immer noch darauf, dass ihr Jetzt dasselbe Jetzt ist wie das Jetzt ihres Schätzchens, das sich gerade im Flug nach Mallorca befindet und hoffentlich die zärtlichen Gedanken spürt, die schneller zu ihm fliegen als mit physikalisch limitierter Lichtgeschwindigkeit. So haben auch die Sterne der Sprache mit den Sternen der Kosmologie nicht Schritt gehalten und werden es vermutlich nie ganz tun.

Eine große Zahl von Wendungen und Sprachbildern, die weniger mit den wirklichen Sternen verbunden sind, als vielmehr mit einer archaischen Vorstellung, die wir davon haben und bewahren, bereichern die Sprache. Nur einige davon:

‹Unter einem guten Stern stehen› bedeutet, dass etwas vielversprechend beginnt oder besonders günstig verläuft. ‹Die Sterne vom Himmel holen wollen› sagt man, wenn jemand das Unmögliche möglich machen möchte oder ein nicht einlösbares Versprechen gibt. ‹Das steht unter einem anderen Stern› sagen wir, wenn eine Sache oder ein Ereignis sich in eine andere Richtung entwickelt als erwartet. Von jemandem, der oder die oft Pech im Leben hat oder von schwierigen Umständen verfolgt zu werden scheint, klagen wir ‹er oder sie sei unter einem unglücklichen Stern geboren›. ‹Etwas stehe noch in den Sternen› meint, es sei noch ungewiss und nicht vorhersehbar, was passieren wird. ‹Die Sterne sehen› ist hingegen durchaus konkret und naturwissenschaftlich mit dem Phänomen der Parästhesie erklärbar: Eine Parästhesie, ‹παραίσθησις› [paraísthesis] (Nebenwahrnehmung, falsche Wahrnehmung) ist ein vom Zentralnervensystem fehlgedeuteter Sinneseindruck, der sich bei einer Überreizung eines Sinnesorgans einstellt: extrem kalte Gegenstände können sich beim Berühren als sehr heiß anfühlen, extreme Schmerzen können als lautes Geräusch oder eben als grelle Lichtblitze wahrgenommen werden. So kann man tatsächlich Funken aufblitzen oder Sternlein funkeln sehen, wenn man beim Ausräumen des Geschirrspülers mit Kopf gegen die Kante einer offenen Schranktür stößt. Und noch ein Lustiges, wofür ich zwar keine Erklärung habe, dessen Bedeutung aber wohl auf der Hand liegt: ‹Sternhagelvoll sein›!

Sterne haben seit jeher die Vorstellung der Welt beeinflusst und folglich die Sprachen mitgeprägt: Aus dem griechischen Wort ‹ἄστρον› [ástron] (Stern, Himmelskörper) und dem gleichbedeutenden lateinischen ‹aster› leiten sich eine große Zahl von Wörtern ab: ‹astral› (einen Stern oder den Sternenhimmel als Ganzes betreffend), ‹Astrologie›, ‹Astronomie›, ‹Astrometrie›, ‹Astronom›, ‹Astronaut›, ‹Asteroid›, ‹Asterisk› und viele mehr.

Weniger naheliegend — aber nicht weniger fundiert! — ist, dass auch das Desaster etymologisch auf den Stern zurückgeht. Italienisch ist ein Himmelskörper ‹un astro›. Das wunderschöne Lied ‹Santa Lucia› erinnert daran: ‹Sul mare luccica l’astro d’argento…› (Über dem Meer funkelt das silbrige Gestirn… — gemeint ist der Mond). Zusammen mit der ins Negative wendenden Vorsilbe ‹dis-› wird aus ‹astro› (Gestirn) ein ‹disastro› (Ungestirn, schlechter Stern).

Wie die Franzosen die Mona Lisa von Leonardo und die Pietà von Cosimo Tura einst abtransportiert haben, haben sie sich auch auf desaströse Weise des ‹disastro› angeeignet, es zum ‹désastre› gewandelt und als ‹Desaster› in viele Sprachen der Welt exportiert.

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