VON AUFWERTENDEN WUNDEN UND KADAVERN

Alberigo TuccilloGeschichte, Gesellschaft, Sprache Schreibe einen Kommentar

Vom häufig verwendeten und allgemein verstärkenden neuhochdeutschen Adverb ‹sehr› gab es Mittelhochdeutsch bereits eine Vorstufe mit einer etwas verschiedenen und deutlich weniger positiven Bedeutung. Der in der mittelhochdeutschen Lyrik oft wiederkehrende Ausdruck ‹sēre wunt› bedeutet zwar ‹sehr leidend, arg verletzt›, doch das Adverb ‹sēre› bedeutet eigentlich ‹schmerzlich, schmerzend, Schmerz verursachend› und nicht im heutigen Sinne ‹sehr›. Das mittelhochdeutsche ‹sēre› geht auf einen gemeingermanischen Stamm zurück: Althochdeutsch ‹sēr› (Wunde), Gotisch ‹sair› (Wunde), daraus sind in germanischen Sprachen abgeleitet: Englisch ‹soreness› (Schmerz, Wundsein, Verwundung, Schürfung) und ‹sore› (wund), Niederländisch ‹zeer› (Wunde), Schwedisch ‹sår› (Wunde). In der neuhochdeutschen Sprache erinnern einzig noch das Verb ‹versehren› und das Adjektiv ‹versehrt› beziehungsweise das häufiger verwendete Antonym ‹unversehrt› an die alte Bedeutung. Mit der heutigen weder positiv noch negativ konnotierten, sondern schlicht neutral verstärkenden Funktion tritt ‹sehr› erst ab dem 15. Jahrhundert auf; zuerst im süddeutschen, dann allmählich auch im mittel- und im norddeutschen Raum. 

Ähnlich, doch noch verblüffender ist die Geschichte der schweizerischen Adverbien ‹cheibe› und ‹choge›, die heute dem standarddeutschen ‹sehr› entsprechen. Der ‹Cheib› und der ‹Chog› waren ursprünglich Bezeichnungen für einen Tierkadaver, mit dem die Wörter auch etymologisch verwandt sind. ‹Cheib› wurde ursprünglich ausschließlich als Beschimpfung für einen bösen, hinterhältigen, grausamen Menschen verwendet; ähnlich wie ‹Aas› oder wie Synonyme in anderen Sprachen — zum Beispiel Italienisch: ‹quellʼuomo è una carogna!› (jener Mann ist ein verwesender Tierkadaver!) — Die Bedeutung ‹Cheib› schwächte sich ab, obwohl sie zunächst negativ blieb; etwa in ‹fuule Cheib› (Taugenichts, Nichtsnutz). Doch mit der Zeit schlug sie sogar ins Gegenteil um! Aus dem Bösewicht, dem Grausamen, Verwerflichen wurde nach und nach ein schlauer, gewiefter, sogar kluger, zu außergewöhnlichen Leistungen fähiger Mensch, eine eindrückliche Erscheinung! ‹Luus-Cheib› (Lausebengel, pfiffiger Bube), ‹Düüfels-Cheib› (Teufelskerl, Tausendsassa), sogar ‹ä feinä Cheib› (ein aufrichtiger, ehrlicher, verlässlicher Mensch). Aus den Substantiven ‹Cheib› und ‹Chog› wurden schon früh die Adjektive und Adverbien ‹cheibe› und ‹choge› gebildet. Beispiele: ‹cheibe guët› (außerordentlich gut), ‹cheibe schöön› (sehr schön), ‹cheibe schaad› (sehr schade)…

‹Cheib›, ‹Chog›, ‹cheibe› und ‹choge› sowie das Wort ‹Kadaver› selbst gehen auf das lateinische Verb ‹cadere› (fallen) zurück. Ein Kadaver ist ein hingefallener Körper (wobei die Einschränkung, dass es sich um einen Tierkörper handeln muss, nicht für die romanischen Sprachen gilt; auf Italienisch bedeutet ‹cadavere› schlicht Leiche).

Ebenfalls von ‹cadere› (fallen) sind die Wörter abgeleitet: ‹Kasus› (Fall; sowohl grammatikalischer Fall als auch beispielsweise ein Gerichtsfall oder der Kriegsfall, casus belli), ‹Kadenz› (Akkordfolge als Abschluss oder Gliederung eines Musikstücks), ‹Chance› (günstige Gelegenheit, um etwas Bestimmtes zu erreichen), ‹Dekadenz› (kultureller Zerfall), ‹Kaskade› (meistens künstlich angelegter Wasserfall, im metaphorischen Sinn auch Wortschwall), ‹Schanze› (aufgeworfener Erdwall als militärische Verteidigungsanlage, oder Vorrichtung für weite Sprünge im Sport), ‹Okzident› (Westen, Himmelsrichtung, wo die Sonne untergeht beziehungsweise ins Meer fällt).

Alberigo Albano Tuccillo ‹Linguistische Amuse-Bouche›, ISBN 9783755735601

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