Von Zähnen und vom Fressen

Alberigo TuccilloSprache 2 Kommentare

Das altgermanische Substantiv für Zahn, Mittelhochdeutsch ‹zant, zan›, Althochdeutsch ‹zand, zan›, Niederländisch und Schwedisch ‹tand›, Englisch ‹tooth›, Gotisch ‹tunÞus› geht auf ein indoeuropäisches Substantiv ‹*dont-› (Zahn) zurück, das eine Partizipialbildung zur indoeuropäischen Wurzel ‹*ed-› (kauen, beißen) ist. Auch in anderen indoeuropäischen Sprachen geht das Wort für Zahn auf dieselbe Wurzel zurück, etwa Griechisch ‹ὀδούς, ὀδόντος› [odús, odóntos] und Lateinisch ‹dens, dentis›. Das Substantiv bedeutet demnach eigentlich ‹der Beißende› oder ‹der Kauende›.

Vom gleichen Stamm sind auch abgeleitet ‹zanken› (streiten), ‹Zinke› oder ‹Zinken› (spitzer Fortsatz eines Werkzeugs) und ‹Zinne› (gemauerter zahnförmiger Aufsatz auf einer Brustwehr).

Auf die erwähnte Wurzel ‹*ed-› (kauen, beißen) geht auch das Verb ‹essen› selbst zurück,  Althochdeutsch ‹eʒʒan›, Mittelhochdeutsch ‹eʒʒen›, Gotisch ‹itan›, Englisch ‹to eat›, Schwedisch ‹äta›, Griechisch ‹ἔδμεναι› [édmenai], Lateinisch ‹edere›. 

Dass Zahn und essen — nicht bloß Deutsch, sondern auch in anderen indoeuropäischen Sprachen — auf dieselbe indoeuropäische Wurzel zurückgehen, ist an sich nicht sehr erstaunlich. Doch das Netz der etymologischen Pfade führt in diesem Fall zu noch verblüffenderen und faszinierenderen Ableitungen. Althochdeutsch gab es neben ‹eʒʒan› (essen) auch noch das Verb ‹geʒʒan› — mit der verstärkenden Vorsilbe ‹ge-›. Dies bezeichnete ursprünglich nicht bloß das Essen, sondern das gierige Zubeißen, das Nach-etwas-Schnappen, vielleicht sogar einem Konkurrenten einen Bissen entreißen. Später bekam ‹geʒʒan› die allgemeinere Bedeutung von ‹bekommen, erlangen›. Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch haben sich aus ‹geʒʒan› keine gleichbedeutende Verben gebildet, aber Englisch entstand daraus ‹to get›, was bedeutungsmäßig dem Ursprung sehr nahe geblieben ist.

Auch wenn das althochdeutsche Verb ‹geʒʒan› in seiner Basisform in der neuhochdeutschen Sprache keine Derivate hat, gibt es doch Ableger mit Vorsilben. So zum Bespiel: ‹uuergeʒʒan› mit verneinender Vorsilbe ‹uuer-› (ver-) führt zu ‹vergessen›, Englisch ‹forget›. Dies erklärt sich folgendermaßen: ‹geʒʒan› war, was man bekommen oder erlangt hatte, auch eine Erinnerung; wenn man die Erinnerung nicht mehr hatte, war das Erlangte nicht mehr da, also war es‹uuergeʒʒan›.

Weitere Ableitungen sind: ‹ätzen› (zerfressen), ‹äsen› (weiden), Aas (Fleisch verendeter Tiere) und andere. Zu bemerken bleibt, dass das Verb ‹fressen› — Althochdeutsch ‹freʒʒan›, Gotisch ‹fraitan›, Mittelhochdeutsch ‹vereʒʒen›, sich erst seit dem 18. Jahrhundert auf die Nahrungsaufnahme von Tieren bezieht. Die ursprüngliche Bedeutung war ‹gierig oder maßlos essen›, Mittelhochdeutsch sogar bloß ‹aufessen, vollständig essen, ohne etwas im Teller oder in der Schüssel zurückzulassen›.

‹Linguistische Amuse-Bouche›, ISBN-13: 9783754382622, 35 €

Kommentare 2

  1. Sehr interessante geistige Nahrung vor dem weihnachtlichen „Fress“ Gelage. Vielleicht in Auszügen auch ein gelungener Beitrag zur Konversation bei Tisch 😇

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