Spaccanapoli

Weihnacht in Spaccanapoli

Alberigo Tuccillo Gesellschaft, Kunst und Kultur Schreibe einen Kommentar

Wie fast jeden Abend hatte Giuseppe vor Don Salvatores Laden seinen Posten eingenommen, und dort, im Schutz der Dunkelheit, unter einer heruntergekommenen und schmuddeligen Arkade, wartete er beharrlich wie ein Gecko auf der Lauer. Er wartete auf den günstigen Augenblick. Den Mantelkragen hatte er hochgeschlagen, obwohl es weniger kalt war als im Vorjahr — und dies gewiss nicht, um nicht erkannt zu werden, denn jedem Bewohner oder auch jedem gelegentlichen Besucher der Gasse genügte, um Giuseppe sofort zu erkennen, einen Zipfel seines braunen Kaftans zu erspähen oder seine ausgelatschten Schuhe, denen man immer noch ansah, wie elegant sie dereinst gewesen waren. Das weiche Revers des Mantels auf seiner Wange gab ihm bloß ein wohliges Gefühl und machte die Warterei etwas weniger trostlos.

Don Salvatore war der Fischhändler im Quartier und sein Laden, obwohl er auf weit glücklichere längst vergangene Tage zurückblickte, hatte doch noch immer eine gewisse treue Kundschaft. Es gab zugegebenermaßen nicht mehr viele, die ihre Taschen mit Langusten, Seeteufel, Schwertfisch und Thunfisch-Steaks füllten, aber Hering und Kabeljau, Venusmuscheln und Miesmuscheln, Sepien und Kalmare verkaufte Don Salvatore noch genug. Eine goldene Nase verdiente er sich nicht dabei, doch ums Jammern war’s ihm auch nicht zumute; schließlich waren andere weit schlechter dran als er. Giuseppe allerdings konnte sich nur schwer mit diesem Gedanken trösten — wo hätte er denn einen finden können, der übler dran war als er?

Seit nunmehr vielen Jahren war er arbeitslos, und dies, wohlverstanden, nicht etwa, weil ihm zum Arbeiten die Lust gefehlt hätte. Bis vor zwei Jahren hatte er nämlich so unermüdlich wie erfolglos eine feste Anstellung gesucht, eine Beschäftigung, die es ihm ermöglich hätte, das Monatsende zu erreichen, ohne dass ihm das Wasser bis zum Halse stehen würde, in einer zumutbaren Wohnung zu leben, jeden Tag etwas zu essen zu haben und die Familie ernähren zu können. Dann hatte er aufgegeben und sich damit abgefunden, dass dieses Leben ihm halt beschieden war und bis zu seinem letzten Tag bleiben würde. In dieser verfluchten Stadt gab es für ehrliche Menschen keinen Platz.

«Entweder du fängst hier an zu stehlen oder du krepierst!», brummte er halblaut, indem er sein Gesicht und seinen neapolitanischen Akzent, dessen er sich schämte, im Mantelkragen versteckte, während er mit einer Hand in der Tasche nach der halben Zigarette und den Streichhölzern suchte, die er für den Moment aufgespart hatte.

Natürlich fand er ab und zu eine Gelegenheitsarbeit: ein Wohnungsumzug, ein Boot lackieren, ein Abflussroh entstopfen, ein Eisengitter putzen und entrosten. Dafür bekam er ein paar Tausend Lire, wenn er Glück hatte, doch dann stand er wieder vor dem Nichts. Es war kaum zu fassen, dass man sich in Turin und in Mailand über die Sozialabzüge, Pensionskassenbeiträge und Steuern beklagte… — er wäre glücklich gewesen, überhaupt ein Einkommen zu haben, von dem man etwas abziehen und das man besteuern konnte, einen Arbeitsvertrag, ein Minimum an Sicherheit, die Aussicht auf eine Pension oder wenigstens auf ein anständiges Begräbnis.

In seiner Stadt jedoch lebte man wie die Hunde, die überall herumstreunten — so wie er eben: Tag für Tag hoffte man und wartete, ohne zu wissen, worauf, vielleicht am Boden einen Lotterieschein zu finden, der den Jackpot leeren würde, oder dass einer der Heiligen, denen er hin und wieder eine Kerze gespendet hatte, sich endlich bequemen würde, eine Gegenleistung zu erbringen. Er wusste oft wirklich nicht mehr ein noch aus, wie er für seine fünf Kinder etwas zu essen auftreiben konnte und für seine Frau, die seit drei Jahren, also seit der letzen Geburt, in jämmerlichem Zustand war. 

So ging Giuseppe abends jeweils dorthin, vor Don Salvatores Laden, um unter jener Laube zu warten, die er, trotz des Müllgestanks, der ihm dort entgegen hauchte, ein bisschen lieb gewonnen hatte. Was hätte er sonst tun können? So war es nun einmal. 

Wenn Don Salvatore den Laden schloss, warf er jeweils den Fisch weg, den er nicht verkauft hatte. In der Regel verharrte darauf Giuseppe noch einige Minuten in seinem stinkigen Versteck. Erst wenn Don Salvatore alle Lichter gelöscht, die Tür verriegelt, den eisernen Rolladen heruntergelassen, daran das Schloss angebracht hatte und sich von seinem Geschäft entfernte, erst dann wagte er sich aus seinem Unterschlupf, überquerte entschlossen und mit professioneller Routine die Gasse, drang flink ins enge Gässchen neben dem Fischladen, näherte sich der Mülltonne und holte die Fischreste heraus, die man noch essen konnte. Geschickt und ohne sich zu beschmutzen wickelte er schnell seine Beute in die Sportseite von «Il Mattino» und dachte dabei, dass es nur dort, nur in jener verrückten Stadt einen Bettler geben konnte, der bei der Arbeit eine Krawatte trug, auch wenn es die letzte war, die ihm blieb. Sein erfahrenes Auge erlaubte ihm, selbst im Zwielicht blitzschnell das noch Verwertbare vom endgültig Verdorbenen sicher zu trennen. Eine Minute würde er dafür brauchen, allerhöchstens zwei. 

Darauf würde er, zwar ohne Hast, aber doch möglichst schnell sich Richtung San Biagio dei Librai entfernen, in den düsteren Sträßchen verschwinden, wo er jeden Stein und jedes Loch des Straßenpflasters kannte. Er wollte nicht gesehen werden in der Nähe des Fischladens. Erst später, erst nach dem Denkmal würde er wieder auf den breiteren Weg treten und sich mit seinem Päcklein in der Hand unauffällig unter Leute mischen, die ebenfalls irgendetwas mit sich führten, ob Gekauftes, Gestohlenes oder Erbetteltes. 

Zu Hause angekommen würden ihm seine Kinder entgegenlaufen: «Papa, papa, zeig mal her, was isn Geiles drin in dem Pack? Was zu mampfen? Das ises doch, was in dem Ding drin ist, nicht?» «DÜRFEN WIR SEHEN, WAS DU UNS MITGEBRACHT HAST? IST ETWAS ZUM ESSEN IN DIE ZEITUNG EINGEWICKELT?», würde er mit übertriebener Strenge mahnen, «Kinder, ihr wisst doch, dass ich es nicht mag, wenn ihr so redet!» Dann würde es aber doch Küsschen und Zärtlichkeiten geben. «Geht spielen. Den Fisch muss man säubern und waschen! Rührt ihn nicht an, sonst werdet ihr noch krank.» Armut war für Giuseppe Esposito kein Grund, Haltung, Sprache und Manieren verrohen zu lassen. Er versuchte dem Unausweichlichen etwas Ideelles entgegenzustemmen und nicht zu zeigen, wie sehr ihn seine Lage bestürzte. Letztlich aber war dies ihr Los: Brot gab’s kaum, Öl war zu teuer, Medikamente für seine kranke Frau konnten sie sich nicht leisten.

An jenem Abend jedoch nahm alles die schlimmstmögliche Wendung: Don Salvatore schloss den Laden ungewöhnlich spät und blieb, bevor er sich endlich auf den Heimweg machte, einige Minuten beim zufriedenen Betrachten seines heruntergelassenen Rolladens, als bestaunte er ein besonders geglücktes Kunstwerk. Giuseppe behielt ihn im Auge, biss sich leicht auf die Unterlippe, und als sich Don Salvatore endlich mit leichtem Gang und ein Weihnachtslied trällernd entfernte, trat er aus der Deckung, wieselte über den Weg und ging, wie üblich, schnurstracks auf die Mülltonne zu. 

Er sah sich um: niemand zugegen. Er hob den Deckel der Tonne an und im selben Augenblick fühlte er das Blut in seinen Adern gerinnen. Obwohl er auf das Grauen hätte gefasst sein müssen. Wie im Vorjahr, wie zwei Jahre zuvor: Es war Heiligabend und Don Salvatore hatte alles verkauft. Die Tonne war folglich leer. 

«Bei Espositos wird heute nicht gegessen! Wir überspringen alles: Weihnachten, Neujahr und Fasnacht und platzen direkt und mitten in die Fastenzeit hinein!», rief er gegen die erleuchteten geschlossenen Fenster. Er erstickte einen Fluch, bevor dieser über seine Lippen ging, und stellte sich vor, er würde der Mülltonne einen mächtigen Tritt verpassen. Dann aber nahm er wie gewohnt Haltung an und schritt mit unbeirrbarer Gefasstheit auf seinen Heimweg, mit seiner Würde und seinem Stolz, die er niemals verlieren würde. 

Papa, papa, was hast du heute Gutes mitgebracht? echote es in seinem Kopf, während er verstohlen durch die menschenleeren Gassen eilte.

Ein menschenleeres Neapel? Wie konnte Neapel menschenleer sein? — Die Stadt, in der es von allem zu viel gibt: zu viel Elend, zu viel Lärm, zu viel Fröhlichkeit, zu viel Traurigkeit, zu viel Gestank, zu viele Krawatten, zu viel Liebe, zu viel Hass, zu viele feine Herren, zu viel Abschaum, zu viele Menschen. 

Nein, Neapel war nicht menschenleer. Sie waren schon da, die Menschen! Und wie sie da waren! Aber sie waren in den Häusern, alle in ihren Küchen, alle am Richten des Festmahls. Bald geht’s zu Tisch. Maccheroni, Fisch, Gemüse, Salat, Brot, Mineralwasser, Wein, dann gibt’s Nachtisch, Kaffee… heut‘ wird der Herr geboren!

«Tja! Aber wird denn dieser Herr nur für die anderen geboren?», keifte er. «Dem Giuseppe Esposito werden nur hungrige Kinder geboren, Kinder, die ihm entgegenrennen und ihn fragen: ‹Papa, papa, was hast du heute Gutes mitgebracht?›» 

Inzwischen war Giuseppe, ohne sich gewahr zu werden, dass er eine Viertelstunde gelaufen war, vor seinem Haus angekommen. Er hielt einen Augenblick inne, weil er merkte, wie geräuschvoll sein Atem ging. Er musste seine Fassung und seine Ruhe gänzlich zurückerlangen, bevor er eintreten und seine Lieben umarmen würde. Im Übrigen musste er noch die richtigen Worte finden, um ihnen das Fasten zu erklären, das ihnen auferlegt sein würde.

Ein Haus konnte man das seine wahrlich nicht nennen. Es war eine verlassene Werkstatt. Aber er wohnte da; er selbst wohnte da, seine Frau Maria wohnte da und seine fünf Christkinder wohnten da. 

Es kam ihm aber sehr seltsam vor, dass alle Fester dunkel waren. Nirgendwo war ein Licht zu sehen und alles war merkwürdig still. Es schauderte ihn. Wo zum Teufel waren sie? Wo war seine Familie? Es konnte doch nicht sein, dass alle schon im Bett waren! 

Er näherte sich der Eingangstür und war sich immer weniger sicher, dass seine Stimme nicht versagen würde, wenn er rief: «Maria, Elio, Massimo, Grazia… » Doch plötzlich hörte er hinter sich kleine Füße auf den Asphalt schlagen: «Papa, papa, was hast… » «Nein! Heute gar nichts! Nicht einmal Fischdosen mit abgelaufenem Verfallsdatum! Weg jetzt, stellt keine Fragen, ich bin übelster Laune!» «Aber Papa, es ist Heiligabend, wie kannst du schlecht gelaunt sein? Wo hast du überhaupt so lange gesteckt? Wir sind schon alle bereit, komm, Don Salvatore, der Fischhändler, hat gesagt, dass er dich schon lange nicht mehr gesehen hat und dass er uns alle zum Fischessen zu sich einlädt. Komm, Pa‘! Das gibt ein richtiges Fressen, sogar mit Brot und so, da schaufeln wir richtig rein!» Giuseppe konnte ein Lächeln nicht ganz unterdrücken, versteckte es aber schnell hinter einem vorgespielten strengen Ton: «Kinder, achtet doch auf eure Sprache! Euer Vater will nicht, dass ihr so redet.»

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