König der Löwen

Welkende Wörter

Alberigo Tuccillo Sprache Schreibe einen Kommentar

Ich kann den Leserinnen und Lesern dieses Artikels leider weder die nicht sonderlich spannende Einleitung ersparen, noch kann ich wirklich garantieren, dass es sich lohnt, bis zum Ende zu lesen. Doch eine Alternative fällt mir nicht ein: Ich muss es wagen.

Es gibt auf der einen Seite Wörter, die sich über Jahrhunderte nur wenig verändern und mehr oder weniger dasselbe bedeuten, auf der anderen Seite solche, die sich mit der Zeit entweder in ihrer Gestalt oder in ihrer Bedeutung oder in beidem bis zur völligen Unkenntlichkeit wandeln. Dann gibt es Wörter, die neu entstehen, Neologismen, weil das, was sie bezeichnen, neu ist und es folglich vor dessen Erfindung, Entdeckung, Erschaffung keine Notwendigkeit gab, dafür ein Wort zu haben. Schließlich gibt es Wörter, die verschwinden, weil sie entweder durch treffendere ersetzt werden oder weil das Bezeichnete sich schlicht als Irrtum herausstellt.

Ein solches Beispiel ist das Wort ‹Phlogiston›, vom Griechischen ‹φλογιστός› [phlogistós] (verbrannt). Im 17. Jahrhundert hatte man bemerkt, dass beim Verbrennen von Holz oder Papier die Asche weniger wog, als das unverbrannte Material gewogen hatte. Man sagte sich: «Das ist klar, denn beim Verbrennen geht ja etwas weg: Flamme, Rauch, Gestank. Also muss das Zurückbleibende weniger wiegen.» Nun stellte man aber fest, dass beim Verbrennen von Magnesium, obwohl da ebenfalls Flamme, Rauch, Gestank weggingen, die Asche schwerer war als das Metall vor dem Verbrennen. Und da kam man auf die lustige Idee, dass es etwas geben musste, was beim Entweichen nicht weniger, sondern mehr Gewicht hinterlässt, folglich ein negatives Gewicht haben musste; und diesen (nicht wirklich existierenden) Stoff nannte man eben ‹Phlogiston›. Ein weiteres Beispiel ist das Wort ‹Dickhäuter›, das zwar noch nicht vollkommen begraben ist, aber immerhin die Pseudofachbezeichnung davon, ‹Pachydermata› — vom Griechischen ‹παχύς› [pachýs] (dick) und ‹δέρμα› [derma] (Haut) —, von Wikipedia nur noch auf Englisch aufgeführt ist. Wir hatten in meiner Kindheit zu Hause ein altes Buch, das leider verloren gegangen ist, in dem die Tierwelt nach ganz sonderbaren Kriterien in vermeintliche Familien eingeteilt war. Auf einer Tafel waren in sehr schönen Schwarz-Weiß-Zeichnungen ein Elefant, ein Flusspferd, ein Nashorn und ein weiteres Tier, das ich vergessen habe, abgebildet, und darunter stand feierlich: ‹Pachydermata›! — Lebewesen nach der Dicke oder der Farbe ihrer Haut in Kategorien einteilen zu wollen, ist natürlich barer Unsinn, mithin ist das Wort, wenn noch nicht ganz ausgestorben, doch wenigstens so weit, dass man auf lebensverlängernde Maßnahmen verzichtet.

Nach dieser zugegebenermaßen langen und vielleicht auch etwas langweiligen Einleitung komme ich nun endlich auf den Punkt. Es geht mir nämlich um ein Wort, das eben nicht ausgestorben ist, sich im Gegenteil bester Gesundheit erfreut und mich jedoch zunehmend in Perplexität stürzt: ‹Patriot›.

Dass das Wort bald mit geschwellter Brust gleichsam als hehres Bekenntnis skandiert, bald dem Gegner als Beschimpfung an den Kopf geworfen wird, verwirrt mich nicht. Das ist für Wörter, die eine Ideologie bezeichnen oder mit einer bestimmten Ideologie sehr eng verbunden sind, eigentlich der Normalfall: Kapitalist, Kommunist, Moslem, Christ, Grüner, Jude, Wissenschaftler, Mystiker und unzählige andere sind Begriffe, die je nach Perspektive, Standpunkt und Kontext positiv oder negativ konnotiert werden. Auch dass bis ins Mark verfeindete, einander unerbittlich und gnadenlos bekämpfende Lager für sich beanspruchen die eigentlichen, einzigen, echten und wahren Patrioten zu sein, lässt eher schmunzelnd an ‹Monty Python’s Life of Brian› oder an ‹Gullivers Frühstückseier› in Jonathan Swifts Satire denken, als dass es erstaunen würde.

Was mich viel stärker zunehmend befremdet, ist das Wort ‹Patriot› an sich! ‹Patriot› ist eine Kontraktion von ‹PRO PATRUM TERRA› (für das Land der Väter), was unweigerlich eine ganze Reihe von Fragen aufwirft: War das Land der Väter nicht auch das Land der Mütter? Müsste man sich nicht in gleichem Maße auch dafür verwenden, also ‹PRO MATRUM TERRA›? Sollten Patrioten und Patriotinnen nicht zugleich Matrioten und Matriotinnen sein? Ob man nämlich dem Land der Väter und dem Land der Mütter, selbst wenn es dasselbe Land ist (was ja nicht zwingend der Fall sein muss), dieselbe Art von Zuwendung angedeihen lassen müsste, ist mitnichten von vornherein klar — das müsste man vorerst zumindest prüfen. Darüber hinaus sagt der Begriff bloß aus, für was, aber nicht auf welche Weise man sich einsetzen möchte oder sollte. Und das führt zur nächsten, wesentlicheren Frage: Können Patrioten und Matrioten überhaupt am Land der Väter und der Mütter noch etwas gestalten oder verändern? Sollten sie sich nicht eingestehen, dass Väter und Mütter, ob gut oder schlecht, getan haben, was sie tun konnten, und dass es jenes Land nicht mehr gibt, weil sie nun das Land uns überantwortet haben und wir nun für das verantwortlich sind, was es jetzt ist, und für den Zustand, in dem es sich befindet?

Schließlich komme ich zum Kern: Die Art der Nutzung, die Gestaltung, die Pflege, die Entwicklung des Landes, das einst Land der Mütter und der Väter war und nun in unseren Händen liegt, können — wie ich meiner Meinung nach deutlich gemacht habe — an der Vergangenheit, mithin am Land, das einst war, nichts mehr ändern. Es ist nicht einmal sicher, dass sich die Folgen unseres Handelns in ihrer ganzen Tragweite während unseres Daseins manifestieren. Sich daran erfreuen oder sie beklagen werden jedoch sicher die folgenden Generationen.

Deshalb sollte meines Erachtens der Begriff weder ‹Patriot› noch ‹Matriot› lauten, sondern ‹Filiot›.

Man kann sich nun auf den Standpunkt stellen, dass wir auch manche Suppe haben auslöffeln müssen, die uns frühere Generationen eingebrockt haben, und dass jede Generation halt das Land oder die ganze Welt in dem Zustand erbt, in dem sie sich eben befindet, und selbst den Weg finden muss, um darin zurechtzukommen. Einige werden vielleicht sagen: «Ich habe keine Kinder. Was nach mir kommt, ist nicht mein Problem.» — So schlüssig solche Standpunkte in sich auch sein mögen, sie haben nichts mit meiner Sprachkritik zu tun: Der Begriff ‹Patriot› gehört aus linguistischer Sicht in den Eimer mit ‹Phlogiston› und ‹Dickhäuter›.

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