Werk und Kritik

fbrugger Gesellschaft

Fast alle Menschen erzählen täglich während der Arbeit, nach der Arbeit, beim Kaffee, am Telefon, in Briefen. Man erzählt Geschichten, Erlebnisse, Anekdoten, Pointen, Witze, man berichtet, hält fest, beschreibt, schmückt aus, übertreibt, verharmlost oder erfindet von Grund auf. Manchmal ist dabei das Erzählen selbst der eigentliche Zweck: Wir möchten uns und einander unterhalten, miteinander reden, plaudern, weiter nichts. Manchmal hingegen ist es nur ein Mittel, um ein ganz anderes Ziel zu erreichen: Wir haben die Absicht zu überzeugen, wir möchten jemanden dazu überreden, etwas Bestimmtes zu tun oder eben nicht zu tun, wir wollen führen und verführen. Nur wenige machen daraus einen Beruf, beschließen, damit ihr Brot zu verdienen: Schriftstellerinnen und Schriftsteller, oder — wenn man das Reden, das Sagen, Aussagen, das Erzählen nicht nur im engsten und wörtlichsten Sinn versteht — Künstlerinnen und Künstler.
Täglich hören wir einander zu; entweder weil wir wollen, oder weil wir müssen, entweder aus purer Lust am Zuhören oder weil es uns nicht gelingt, nicht hinzuhören.

Ob wir es aber freiwillig oder unfreiwillig tun, wir nehmen auf, nehmen teil, denken uns einiges und Eigenes dazu, billigen oder missbilligen, freuen oder langweilen uns. Nur wenige machen daraus einen Beruf, beschließen, damit ihr Brot zu verdienen: Kritikerinnen und Kritiker.

Niemand, der weder das eine noch das andere zum Beruf gemacht hat, wird aber immer nur das eine oder das andere sein. In der Regel werden wir zwischen den Positionen und Funktionen hin und her wechseln: Zuhören, solange uns der Sinn danach steht, solange wir Lust dazu haben, und wenn uns die Lust vergeht, werden wir uns entweder mehr oder weniger höflich verabschieden, uns heimlich davon schleichen, uns taub stellen und ausharren, oder aber wir werden selbst das Wort ergreifen; und dann werden wir reden, solange wir etwas zu sagen haben, solange uns etwas zu sagen einfällt, solange uns auch danach zumute ist, oder wenigstens solange, bis uns jemand — zu Recht oder zu Unrecht — zum Schweigen bringt.

Es gibt bei unprofessionellen Erzählerinnen und Erzählern beziehungsweise bei unprofessionellen Zuhörerinnen und Zuhörern, Leserinnen und Lesern viele Weisen, auf einander und auf die verschiedenen denkbaren Situationen zu reagieren. Niemand kann und will das Unmögliche auch bloß versuchen, sie hier alle aufzulisten. Ob sich jemand für diese oder für jene Weise entscheidet, ob man zum anhaltenden Wortschwall neigt, zu chronischer Verschwiegenheit, zu verbaler Aggressivität, zu mimosenhafter Verletzlichkeit, zu groben Taktlosigkeiten oder zu übertriebener Behutsamkeit hängt immer und allein vom eigenen Charakter ab, von einer Überzeugung, vom Gemüt, von der momentanen Verfassung, von bewussten oder unbewussten Launen — aber nie davon, ob man gerade die Position des Zuhörenden oder die des Erzählenden einnimmt, die ohnehin stets austauschbar ist. Das heißt: Es gibt diese Positionen eigentlich gar nicht, strenggenommen nicht einmal vorübergehend, denn wer gewöhnt ist, andern wirklich zuzuhören, gibt die Position des Zuhörenden selbst dann nicht gänzlich auf, wenn er gerade die Rede führt.