Keine Angst! Es geht auch diesmal im Wesentlichen um Sprache und nur ganz am Rande um Mathematik. Nicht, dass ich selbst etwas gegen Mathematik hätte, im Gegenteil! Ich möchte nur jene gleich vorweg beruhigen, die beim bloßen Gedanken daran, sich mit einem mathematischen Problem befassen zu müssen, gar nicht erst weiterlesen würden.
Es geht um die vermeintlich banale Frage: Warum nennt die Mathematik den Sinus so, wie er eben heißt? Das lateinische Wort ‹Sinus› hat verschiedene Bedeutungen: Die Kiefer- und die Stirnhöhle heißen in der Anatomie und in der Medizin ‹Sinus maxillaris› und ‹Sinus frontalis›, und wenn wir in diesen Höhlen eine schmerzliche Entzündung haben, haben wir eine Sinusitis. Sinus bedeutet auch Bucht, Golf, Meerbusen. Man denke an den Bottnischen Meerbusen, den nördlichen Ausläufer der Ostsee zwischen Schweden und Finnland. Eine weitere Bedeutung von Sinus ist die weibliche Brust.
Allgemein wird angenommen, diese letzte der aufgezählten Bedeutungen habe der mathematischen Funktion den Namen beschert, was den Lernenden im Mathematikunterricht meistens auch als Erklärung angegeben wird. Wenn man die Grafik betrachtet, die ich angefertigt habe, wird sich wohl kaum arge Skepsis gegen diese doch leicht nachvollziehbare Darlegung regen. Ich selbst habe sie damals, als unser Mathematiklehrer uns in die Trigonometrie einführte, auch als vollkommen einleuchtend angenommen, sogar als schön empfunden und nicht weiter darüber nachgedacht.

Erst viele Jahre später begann in mir allmählich das Gefühl aufzusteigen, dass da etwas nicht stimmen konnte. Die Darstellung in meiner Zeichnung zeigt nicht eigentlich den Sinus, sondern die Sinus-Funktion, die Sinus-Kurve im kartesisches Koordinatensystem. — Nicht erschrecken! Um meiner Argumentation zu folgen, muss man nicht wissen, was das kartesische Koordinatensystem ist. Man muss bloß wissen, dass es von Cartesius (Latinisierung von René Descartes) eingeführt wurde, der von 1596 bis 1650 gelebt hat. Und im 17. Jahrhundert gab es den Sinus mitsamt seinem Namen bereits seit vielen Jahrhunderten! Das hübsche Brüstchen ergibt aber bloß in der kartesischen Darstellung der Funktion einen Sinn und konnte unmöglich der Grund für die Namensgebung gewesen sein, als die mathematische Erkenntnis keinerlei Assoziation mit einer weiblichen Brust erweckte.

In einem Kreis mit dem Radius 1 ist für einen Winkel θ die grüne Strecke der Sinus (und die blaue der Cosinus; dazu kommen wir noch). Das war im indischen, später im arabischen Raum, noch später auch im Abendland bekannt. Und in dieser Darstellung wird wohl niemand eine Brust sehen. Dennoch hieß der Sinus bereits im 12. Jahrhundert so. — Die Erklärung musste also eine andere sein! Ich forschte nach und stieß auf folgende, ziemlich überraschende Geschichte:
Diese für die Architektur, für das Ingenieurwesen, für die Astronomie und für viele andere Wissenschaften, aber auch für das Handwerk sehr nützliche trigonometrische Funktion war den alten indischen Mathematikern bereits bekannt. Sie nannten den Sinus auf Sanskrit ‹jiva›, was ‹Bogensehne› bedeutet. Und dies ergibt, wie die nachstehende Illustration verdeutlicht, einen Sinn.

Als dann arabische Mathematiker das Wissen der Inder übernahmen und die Sanskrit-Texte auf Arabisch übersetzten, nahmen sie für die mathematische Funktion nicht das entsprechende arabische Wort, nämlich ‹الوتر› [al-utar] (Bogensehne), sondern transkribierten (einigermaßen) das Sanskrit-Wort ‹jiva› als ‹جيب› [dschība] (wobei der Vokal ‹a› natürlich nicht geschrieben wird, und weil der Buchstabe ‹v› im arabischen Alphabet nicht existiert, schrieb man stattdessen ‹b›). Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Die Araber gaben dem Sinus nicht einen arabischen Namen, sondern schrieben mit arabischen Buchstaben das Sanskrit-Wort. Wie man auf Deutsch die Nudeln aus Italien nicht ‹Schnürchen› nennt, sondern ‹Spaghetti› wie auf Italienisch. Das ist wichtig für das, was dann geschah.
Als der italienische Universalgelehrte Gerhard von Cremona (1114 – 1187), der sehr gut Arabisch konnte, 1175 die arabischen Texte ins Lateinische übersetzte, stutzte er wohl einen Augenblick, als er auf den Sinus stieß, denn das Wort ‹جيب› [dschība] sagte ihm vorerst gar nichts. Er konnte ja auch nicht ahnen, dass es sich um die Transkription eines Sanskrit-Wortes handelte. Er grübelte nach und fand, dass das Wort einer arabischen Bezeichnung für eine Bucht oder Meerenge (nicht für einen Busen!) sehr ähnlich war. So ging er zufrieden da vor Anker, nannte die vermeintliche arabische Bucht auf Lateinisch Sinus, ohne den leisesten anatomischen Hintergedanken, und war mit sich, mit seiner Übersetzung und mit der Trigonometrie glücklich. Das Tittchen musste noch Jahrhunderte — bis zur Zeit des Rationalismus! — darauf warten, dass den Männern (Frauen gab es im Mathematikbetrieb damals kaum) ein falsches, aber reizvolles Licht aufgehen würde.
Weniger spektakulär ist der Cosinus, die Komplementär-Funktion zum Sinus. Die Bezeichnung ‹Cosinus› ergibt sich aus ‹complementi sinus›, also Sinus des Komplementär-Winkels. Diese Bezeichnung wurde zuerst in den umfangreichen trigonometrischen Tabellen verwendet, die von Georg von Peuerbach (1423 – 1461) und seinem Schüler Regiomontanus (1436 – 1476) erstellt wurden.
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Kommentare 2
Herzlichen Dank lieber Alberigo für diese äusserst interessante Erklärung! Fairerweise muss ich bekennen, dass ich zuvor eher der Meinung war, der Busen habe seinen Weg in die Mathematik wohl daher gefunden, weil die Männer sowieso meistens nur Sex im Kopf haben. Erfreulicherweise hast Du mich nun eines Besseren belehrt und ich weiss jetzt, dass dies bei Mathematikern (und Linguisten) wohl doch nicht der Fall ist. 🙂
Author
Danke für das lustige Feedback. Ich habe eigentlich gar nichts gegen Sex, aber in der Linguistik hat er tatsächlich wenig Raum und Sinn, außer wenn es darum geht, die Herkunft einschlägiger Ausdrücke zu klären. Aber selbst in dem Fall hat man den Sex nicht im Kopf sondern vor Augen. Im Kopf hat man dann — wie beim Untersuchen anderer Begriffe, Strukturen, Regeln, Gesetzmäßigkeiten — das wissenschaftliche Verfahren, Vorgehen und die Methode.