Die ältesten bekannten Zahlzeichen stammen von gekerbten Knochen, die mittels mehrerer physikalischer Methoden auf ein Alter von 44’000 Jahren datiert werden. Möglicherweise sind noch wesentlich ältere Funde ebenfalls als Zahlnotation zu deuten, was bedeuten würde, dass bereits der Homo neanderthalensis vor dem Auftreten des Homo sapiens in Europa sich einer rudimentären Zahlensymbolik bediente.
Das römische Zahlensystem entstand mit ziemlicher Sicherheit zwischen 600 und 500 v.Chr. bei den Etruskern. Es wurde dann schon früh von den Römern übernommen, wobei sich die einzelnen Zahlzeichen allmählich von den etruskischen den lateinischen Buchstaben anglichen. Eine Einheit wird durch den Großbuchstaben ‹I› dargestellt, was ursprünglich bloß ein senkreter Strich war, der einen Finger stilisierte (☝🏻= I = 1 | ✌🏻= II = 2). Die Fünf wird durch den Buchstaben ‹V› symbolisiert, was eine Stilisierung der offenen Hand ist (✋🏻= V = 5). Wenn man eine Fünf auf den Kopf stellt (Λ) und unter einer aufrechten Fünf anbringt, kann man daraus das Zeichen ‹X› generieren, was in der Summe 10 ergibt (V+ Λ= X = 10).
Weil das Zeichen ‹L› für 50 weniger leicht und auch nicht sicher erklärt werden kann, springen wir auf die Zahl ‹tausend›. Die Etrusker schrieben für die Zahl ‹tausend› noch eine Sonne ‹🌞›, dann einen Kreis ‹⭕️›, später ein griechisches großes Phi: ‹Φ›. Die Römer transkribierten das Zeichen zunächst mit ‹CIϽ›, woraus sich schließlich ein ‹M› bildete, das zugleich als Abkürzung für ‹milia› (tausend) gedeutet werden konnte. Nahm man vom Tausender nur die Hälfte (IϽ), was 500 ist, resultierte etwas, was aussah wie ein ‹D›, und das wurde dann auch das Zeichen für einen halben Tausender, obwohl der Buchstabe ‹D› nicht als Abkürzung für ‹quingenti› (fünfhundert) gelesen werden kann. Anders steht es beim Zeichen für Hundert, denn ‹C› kann für ‹centum› (hundert) stehen.
Wenn oft gesagt wird, Fibonacci habe von den Arabern die Null übernommen und im Abendland bekannt gemacht, ist es zwar nicht ganz falsch, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Ein Zeichen für ‹null› beziehungsweise für ‹nichts› kannten sowohl die Römer als auch die Etrusker, nämlich ‹—›. Doch davon machten sie kaum je Gebrauch. Dass von einer Ware nichts mehr da war oder dass jemand noch nichts bezahlt hatte, sah man schließlich bereits daran, dass nichts mehr im Regal war oder dass keine Zahlung im Register eingetragen war. Aber der wahre Vorzug der indisch-arabischen Null besteht nicht darin, dass sie auf das Nicht-vorhanden-Sein von etwas hinweist, sondern darin, dass sie in einer Reihe von Ziffern, eine Potenz oder mehrere Potenzen besetzen kann. Doch darüber Genaueres weiter unten.
Noch eine Bemerkung zum Zeichen ‹L› für ‹quinquaginta› (fünfzig). Gesichert ist es, wie bereits gesagt, keineswegs, doch eine Hypothese hält es für wahrscheinlich, dass die untere Hälfte eines ‹C›, wenn man den kleinen übrig bleibenden Haken auf die Punktgröße des ursprünglichen ganzen Buchstaben streckt, einem ‹L› ähnelt.
Mit den Zeichen ‹I, V, X, L, C, D und M› kann man nun folgendermaßen die natürlichen Zahlen ohne die Null, die positiven ganzen Zahlen ausdrücken: Man schreibt von links nach rechts das größere Zahlzeichen zuerst; also: M kommt vor D, D vor C, C vor L, L vor X, X vor V und V vor I. Die Zahlzeichen werden addiert: MMM = 3000, MMD = 2500, MDXX, 1520, MDXXVII = 1527 et cetera. Um die Sache etwas zu verkürzen, wird ein kleineres Zahlzeichen, das vor einem größeren steht, nicht addiert, sondern subtrahiert: statt IIII zu schreiben, schreibt man IV (5 – 1), statt VIIII zu schreiben, schreibt man IX (10 – 1), statt XXXX schreibt man XL (50 – 10), statt LXXXXVIIII also IC (100 – 1) und so weiter.

Das Zahlensystem der Maya entstand fast zur gleichen Zeit wie das etruskisch-römische, nämlich um 500 v.Chr., und weist damit auch gewissen Ähnlichkeiten auf. Anstelle der senkrechten Striche für die Einheiten (I) schrieben die Maya einen Punkt. Für ‹fünf› schrieb man in Mittelamerika vor der Entdeckung Europas statt ‹V› einen horizontalen Balken. Und hier beginnen schon die Unterschiede: Die Basis des Maya-Systems ist nicht die Zehn, sondern die Zwanzig. Und ein weiterer grundlegender Unterschied ist, dass die Null bei den Maya eine analoge Funktion zum indisch-arabischen System hatte: durch die Null wurden Stellen, Potenzen markiert.
In unserem Zahlensystem hat die erste Stelle den Wert n∙100, also n∙1; die Stelle links davon n∙101, also n∙10; die Stelle weiter links davon n∙102, also n∙100; die Zahl 12345 bedeutet also:
1∙10’000 + 2∙1000 + 3∙100 + 4∙10 + 5∙1
Bei den Maya hingegen, da die Basis 20 und nicht 10 war, war der Wert der Stellen: 1, 20 (20∙1), 400 (20∙20), 8’000 (20∙20∙20), 160’000 (20∙20∙20∙20).
Die Entzifferung dieses Systems wurde allerdings dadurch erschwert, dass die Maya für die Berechnungen um ihren Kalender von den eigenen Regeln abwichen! Bei der Kalenderberechnung ist der Wert der zweiten Stelle nicht 400, sondern 360 (12 mal 30; ein Jahr)! Am Ende eines 360-Tage-Jahres wurden bei den Maya jeweils fünf oder sechs Tage angefügt, die sie mit Zeremonien und religiösen Diensten verbrachten, bis ihre Astronomen und Priester beschlossen, dass nun das normale Leben und die kalendarische Zählung wieder weitergehen sollten.

Maya-Zahlen von null bis zwanzig
Um die Sache mit den Stellen zu verdeutlichen, können wir uns noch das in der Informatik wichtige System anzuschauen, das wir das binäre System nennen. Das binäre System hat nur zwei Ziffern: I und O. Die Stellen haben also den Wert 2n, 2n-1 … 25, 24, 23, 22, 21, 20 — die binäre Zahl ‹IOIIOI› übersetzt sich also folgendermaßen in unser Dezimalsystem: (in der Zahl von rechts nach links, aber hier von links nach rechts ausgerechnet)
(1∙1) + (0∙2) + (1∙4) + (1∙8) + (0∙16) + (1∙32)
= 1 + 4 + 8 + 32
= 45
Auf die Vorteile, die das binäre Zählsystem für die Informatik alternativlos machen, wird hier nicht eingegangen, denn es geht hier allein um die Zeichen und um ihre semiotische Bedeutung.
Werfen wir noch einen letzten Blick auf ein historisch bedeutendes Zählsystem, auf das wohl älteste der Welt, auf das babylonische System. Die babylonische Mathematik wurde von den verschiedenen Bewohnern des Zweistromlandes (Mesopotamien im heutigen Irak) entwickelt. Ihr Beginn geht vermutlich auf die frühen Sumerer zurück, um 4000 v. Chr., und ihre Entwicklung setzte sich bis zur Eroberung von Babylon durch die Perser im Jahr 539 v. Chr. fort.
Das Rechnen geschah im so genannte Sexagesimalsystem, das kein Stellenwertsystem ist, da der Stellenwert nicht erkennbar ist: Das Zeichen ‹1› kann folglich 1/60, 60 oder 3600 bedeuten, der Wert kann nur aus dem momentanen sprachlichen Zusammenhang erschlossen werden. Reste dieses Zahlensystems finden sich noch heute in unserer Darstellung von Winkeln (1° = 60′, 1′ = 60″) und in Uhrzeiten. Da 60 = 2 · 2 · 3 · 5 als Teiler die Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, 6, 10, 12, 15, 20 und 30 hat (hochzusammengesetzte Zahlen), können wesentlich mehr Zahlen als im Dezimalsystem in endlicher Darstellung geschrieben werden, was numerische Berechnungen, insbesondere die Division, sehr erleichtert hat. Die Babylonier verwendeten ein indirektes Stellenwertsystem, das sich, wie bereits gesagt, bloß aus dem Kontext erschloss, bei dem das gleiche Zeichen den 60-fachen Wert hatte, wenn es in der Nähe eines anderen Zahlzeichen stand.




Kommentare 2
Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel Wissen in Deinem Kopf Platz gefunden hat! Schliesslich ist mein Kopf nicht kleiner als der Deine, aber ich wüsste wirklich nicht, wo ich all das, was Du weisst, speichern sollte…
Einmal mehr – einfach DANKE für all Deine überaus interessanten Beiträge! Auch wenn mein Schädel zwischendurch wegen Überfüllung kurz vor dem Platzen steht. 😀
Author
Auf die Idee zu diesem Beitrag hat mich dein Bruderherz mit seiner Zusatzfrage gebracht. Und du selbst hast schon oft mit einem Kommentar eine Anregung zum nächsten Thema geliefert. Der gesunde Antrieb für uns alle ist ja letztlich die Neugier. Kinder lernen schließlich nicht, um später eine gute Anstellung zu bekommen oder um gesellschaftlich angesehen zu sein. Kindern fragen sich oder die Mutter, wie man diesem oder jenem Ding sagt, einfach weil sie es wissen wollen. Insofern sind wir schlicht Kinder geblieben.
Alles Liebe!