Der 650. Todestag von Giovanni Boccaccio (1313–1375), der in diesem Jahr begangen wird, bietet Gelegenheit, zur Forschungen über einen der bedeutendsten Autoren der italienischen Literatur einen bescheidenen Beitrag zu leisten und gleichzeitig ältere und neuere Erkenntnisse einem breiteren, auch einem nicht italienischsprachigen Publikum zugänglich zu machen. In ganz Italien werden in diesem Jubiläumsjahr viele großartige und ermutigend gut besuchte Projekte und Veranstaltungen durchgeführt, die von volkstümlichen Festlichkeiten bis hin zu gelehrten, historischen, linguistischen und philologischen Seminaren an Hochschulen reichen, Schulen aller Altersstufen einschließen, in denen auch Wettbewerbe, geführte Museumsbesuche und Exkursionen organisiert werden und die sich auch auf die bildenden Künste und auf den Einfluss Boccaccios auf die Musik ausdehnen.
Obwohl bereits seit dem 11. Jahrhundert in der literarischen Produktion die italienische Volkssprache begonnen hatte das akademische Lateinische allmählich zu ersetzen, gilt Boccaccio — zusammen mit Dante und Petrarca — als einer der Väter der italienischen Literatur und ist mit Bestimmtheit der Literat, der der italienischen Prosa ihre eminente Bedeutung verleiht: Vor ihm war die große Literatur in der Volkssprache vor allem Dichtung im Versmaß, also Poesie, man denke an Dante mit der ‹Comedia› (die dann erst von Boccaccio ‹Divina Commedia›, ‹Göttliche Komödie› genannt wurde), in der mittelalterlichen Tradition der ‹Visionen› eine Reise in Ich-Form durch die drei Reiche der jenseitigen Welt: Hölle, Fegefeuer und Paradies, und an Petrarca mit dem ‹Canzoniere›, ein Zyklus von 366 Gedichten, vor allem Sonetten und Kanzonen.
Boccaccio schuf vor allem mit seinem ‹Dekameron› — von Griechisch ‹δέκα› [déka] (zehn) und ‹ἡμέρα› [hēméra] (Tag“), ein stilbildendes Werk der Renaissance, das zum Vorbild fast aller weiteren abendländischen Novellensammlungen wurde — eine fast allen Bevölkerungsschichten leicht zugängliche Prosa, die auch sprachlich, durch die Verwendung von Dialektformen und Redewendungen aus allen Mundarten Italiens, einen entscheidenden Beitrag zur Bildung einer einheitlichen italienischen Standardsprachen lieferte. Das Verfassen und die Verbreitung des ‹Dekameron› hatte für die italienische Sprache eine ähnliche vereinheitlichende Funktion, wie später Luthers Bibelübersetzung für die deutsche Sprache haben würde.
Boccaccio war der Erzähler sowohl einer gebildeten, gehobenen, intellektuellen als auch einer breiten sozialen Schicht, die vom Klerus bis zur Gesellschaftsschicht, die wir heute als ‹Geschäftsbourgeoisie› bezeichnen würden, und bis zu den Handwerkern und Bauern reichte.
In seinem Werk vereint Boccaccio die höchsten geistigen Ideale des Menschen: auf der einen Seite das im Hoch- und Spätmittelalter zentrale ‹Höfische› und das aus der antiken griechisch-römischen Tradition fortgeführte Rational-Freiheitliche. Dabei wird der Principe Galeotto (Fürst Galeotto), so sein liebevoller Beiname, zum Verfechter eines substanziellen und immer noch aktuellen Bestrebens nach Gleichheit, Gleichwertigkeit, Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau!
Er stellt in seiner Erzählkunst und in seiner mehrfach explizit erläuterten Poetologie eine Humanität, eine Menschlichkeit, die stark in ihrer konkreten Fleischlichkeit verwurzelt ist und mit einem oft amüsierten und immer nachsichtigen Blick betrachtet wird. Boccaccio ist der Erzähler des immanenten Mensch-Seins, das auch heute noch aktuell ist — gewissermaßen ein um Jahrhunderte vorauseilender Vorläufer des Existentialismus.
Aus diesem Grund werden die Veranstaltungen und Feierlichkeiten in Italien und überall in Europa auch dazu beitragen, das vermeintlich dunkle, düstere und rückständige Mittelalter in einem helleren und endlich erhellenden Licht erstrahlen zu lassen.
Etwas, was mir persönlich an Giovanni Boccaccio besonders gefällt, ist, dass er in seiner Poetologie immer wieder seinen Lehrer Albericus zitiert. Nun berührt mich dies auf der einen Seite, weil ich ohne mein Dazutun in die Gnade komme, ein Namensvetter dieses Weisen zu sein, auf der anderen und noch viel schöneren Seite ist es geradezu ein Kleinod der Erzähler-Phantasie, dass die Forschung eindeutig ergeben hat, dass es diesen Albericus gar nie gegeben hat und er bloß dem immensen schöpferischen Geist des Galeotto entsprang.
Nicht von Boccaccio, aber durchaus in seiner Tradition:

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