Quinto

Alberigo Tuccillo Literatur Schreibe einen Kommentar

Da waren sie wieder, die beiden seltsamen Gestalten, die jedem, der ins Dorf heraufkam, sofort auffielen: der einarmige, hinkende Blinde mit dem vernarbten Gesicht und der Mann, bei dem dieser sich immer einhakte und der aussah wie eine kümmerliche Imitation von Charles Bronson in Spiel mir das Lied vom Tod

Am Vortag, als ich ins Auto steigen wollte, um meine Frau zur Entbindung zu fahren, hatte ich die beiden auf dem Parkplatz getroffen und hatte zum ersten Mal ein paar Worte mit ihnen gewechselt. Das heißt: eigentlich hatte ich nur mit dem läppischen grimmigen Cowboy kurz gesprochen, von dem ich immerhin erfuhr, dass er Quinto hieß. Der Blinde neben ihm sagte kein Wort, und auch Quinto sagte nichts über ihn, nicht einmal seinen Namen nannte er, als wäre der Krüppel ein Hund, den er an der Leine führte. Ich fragte auch nicht danach. Wir waren natürlich ziemlich in Eile — die Wehen hatten schon eingesetzt —, aber wahrscheinlich war der wirkliche Grund für meine Zurückhaltung, dass ich in solchen Situationen immer Angst habe, etwas Falsches zu sagen.

Jetzt waren sie in die Bar getreten und waren in der Tür stehen geblieben wie Charles Bronson, wenn er in den Saloon tritt: Eine dunkle Silhouette im sonnenhellen Eingang — stehen bleiben, bis alle verstummen, bis der Wirt hastig die teuren Schnapsflaschen und sich selbst hinter dem Tresen verstaut hat und der Pianist sich davonmacht, den Stimmschlüssel zu suchen oder das Hemd zu wechseln. Aber wir waren nicht im Wilden Westen; niemand verstummte, niemand drehte sich überhaupt nach den beiden um, und auch Gianna Nannini rockte unbeirrt weiter aus der Jukebox.

Quinto spuckte einen zerkauten Zahnstocher aus und rief in meine Richtung durchs Lokal: «Was trinkst du?»

Dann führte er den Blinden an meinen Tisch und drückte ihm den weißen Stock in die Hand.

«Danke», sagte ich, «ich habe noch mein Bier, vielleicht später.»

«Und du?» — Der Blinde machte keinen Wank.

«He!», schnauzte ihn Quinto an und schubste ihn rüpelhaft: «Ich red‘ mit dir! Was trinkst du?»

Der Blinde lachte laut: «Wer ich? Ich… nichts.» Dann hörte er auf zu lachen, krächzte wie ein kaputter Lautsprecher: «Gib mir eine Zigarette!»

«Sag mal, du hast sie doch nicht mehr alle. Du hast eben eine ausgedrückt, willst du mich vergiften mit deinem Qualm? Ist es das, was du willst? Sag schon!»

Er zog eine lose Zigarette aus der Jackentasche, steckte sie dem Blinden in den Mund und gab ihm Feuer: «Scheißqualmerei! — Saug schon!»

Der Blinde lachte, wie man höchstens alle drei Jahre über einen guten Witz lachen kann, dann hörte er auf zu lachen und setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber.

Quinto brachte zwei Gläser Rotwein; eins für sich und eins für den Blinden. Er rückte einen Stuhl vom Nachbartisch heran, sah zu mir, warf sein Kinn hoch und fragte: «Na?»

«Ja», sagte ich, «heute Nacht um drei. Ein Junge.»

«Vier Kilo?»

«Dreieinhalb.»

«Dreieinhalb nur? Ich hätte vier geschätzt. Nach dem Bauch zu schließen… ich hätte vier gesagt. — Aber das reicht schon. Die Luft hier oben ist gut, das gibt Appetit. Der holt schon auf, wirst sehen. Bloß nicht zu warm anziehen, weißt du: abhärten! Die Leute ziehen die Kinder immer zu warm an. Und was haben sie davon? Die Rotznasen werden schwach und verweichlicht und kränklich und bekommen dauernd jeden Scheiß und hüsteln die ganze Zeit herum… — Du gehst doch Pilze sammeln, oder? Nimm ihn mit in den Wald. Laufen soll er! Durchatmen!»

Der Blinde lachte aus vollem Halse in Gianna Nanninis Bello e impossibile hinein: «Vielleicht sollte er noch ein paar Monate damit warten.»

Dann hörte er auf zu lachen. Er konnte sein maßloses Lachen ein- und ausschalten wie durch Knopfdruck. Wenn er gelacht hatte, sah er jeweils ernst und traurig aus.

«Halt die Klappe!», schnauzte Quinto, «trink deinen Wein, wir fahren in die Stadt hinunter.»

«Nein, nicht in die Stadt!», protestierte der Blinde und gab diesmal Geräusche von sich, von denen ich nicht mehr sicher war, ob sie wirklich ein Lachen waren: «In die Stadt nicht! Dann setzt du mich bloß wieder in die Bar, gehst zu deinem Flittchen, und ich kann stundenlang warten und rauchen und rauchen und warten.»

«Erzähl doch nicht so ’n Mist! Hör dir den mal an: Stundenlang, schön wär’s, he, stundenlang! Hab ich etwa in der Lotterie gewonnen? In höchstens einer halben Stunde flieg‘ ich da raus und hol dich aus deinem Qualm.»

Der Blinde lachte, hörte auf zu lachen, nahm einen Schluck, lachte wieder, hörte wieder auf: «Quintino, ich muss pissen.»

«Und worauf wartest du? Geh doch, oder muss ich dich jetzt auch dorthin noch begleiten? Muss ich ihn dir etwa noch rausholen?»

«Ja, ja, Quintino, hol ihn mir raus! Ja!» Er wieherte, «hol ihn mir raus!» Er schaltete sein Lachen aus, stand auf, schlug mit dem Stock zweimal gegen den Flipperkasten, machte drei kleine Schritte nach links, klemmte den Stock unter den Arm, um die Tür zu öffnen, und verschwand.

«Der arme Kerl!», entfuhr es mir. «Du bist nicht gerade nett zu ihm, Quinto.»

Quinto steckte sich eine Zigarette an und leerte zuerst sein eigenes, dann das Glas des Blinden. Er schwieg eine Weile.

Dann sprach er halblaut, ohne mich anzublicken, leise, als redete er mit sich selbst: «Hör mir gut zu, kleiner Papa. Du hast deine hübsche kleine Frau und deine dreieinhalb Kilo Söhnchen. Gut? — Ich habe ihn, und er hat mich, und sonst gar nichts. Kümmere du dich um das, was du hast — wir kümmern uns um uns. Einverstanden?

Ich bin Quinto, weißt du, Quinto, der Fünfte. Ich war der Kleinste, verdammt, immer der Kleinste, immer zu warm angezogen, die Wollmütze, das Wollhemd, die Wollsocken, die langen Unterhosen, der Lodenmantel, den Mutter aus einem alten Militärkaput genäht hatte; durfte nichts ausziehen, sonst wurde Mutter wütend und zog mich an den Ohren, und die andern, die schon sechs waren oder sieben, gingen in den Wald oder zum Bach hinunter, und ich durfte nicht mit; sie wollten mich nicht dabei haben, mich, den Kleinen.

“Hau doch ab!”, sagten sie, “hau ab, Kleiner, geh zu Mama!”, und lachten, und ich stand da, wütend, weiß du, wütend, mit drei Kilo Wolle an, und sah ihnen nach, wie sie zum Bach gingen oder in den Wald. Ich war erst vier.

“Kleiner Hosenscheißer!”, sagte einer noch im Weggehen, “da kannst du nicht mit. Da unten ist nämlich der Krieg. Das ist nichts für Kleine.” Ich wäre so gern mitgegangen zum Krieg, stand da, Tränen und Rotz liefen runter, und konnte mich kaum bewegen in den dicken Kleidern.

Etwas später hörten wir den Knall. Ein paar Scheiben flogen bei uns raus, und über den Baumkronen sah man Rauch aufsteigen.

Der Krieg — weißt du, was das war, der Krieg? Ein Blindgänger war das. Von diesen Scheißdingern liegen immer noch welche rum, das kannst du mir glauben. Du gehst doch Pilze suchen, oder? Denk daran, was dir Quinto sagt: Von diesen verfluchten Dingern liegen immer noch welche rum.

Alle tot — bis auf meinen Bruder. Den haben sie zusammengeflickt.

Von da an, immer an meinem Arm; in der Schule und später, immer an meinem Arm, an diesem Arm. Der kann sich ja nicht mal den Arsch putzen, ohne in die Schüssel zu fallen. Ich habe nur ihn, weißt du, wen denn sonst? Ich bin Quinto, der Fünfte, das fünfte Rad am Wagen, das Ersatzrad. Aber wenn man es braucht, das Ersatzrad, ist es kein Ersatzrad mehr: dann wird es… festgeschraubt.»

Er drehte sich gegen die Toilettentür und brüllte: «Herrgottnochmal! Das dauert ja! Wenn die Schickse schon weg ist, wenn wir in die Stadt kommen, kannst du was erleben!»

Der Blinde wieherte noch einmal auf. Dann ging die Spülung.

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