Der römische Politiker und Geschichtsschreiber Quintus Fabius Pictor (254 v.Chr. – 201 v.Chr.) erzählt als Erster die Geschichte, die wohl alle kennen und die man heute ausnahmslos für eine Legende hält: Amulius — König der Stadt Alba Longa in Latiums Bergen, ungefähr da, wo das heutige Castel Gandolfo, Sommerresidenz des Papstes, liegt — hätte seinen Bruder und Rivalen getötet und dessen Tochter, also seine Nichte Rhea Silvia, im Tempel der Vesta, der Göttin des heimischen Herdes, untergebracht. Trotz des Keuschheitsgebots, das für die Priesterinnen, die Vestalinnen galt, hätte Rhea Silvia dem Kriegsgott Mars Zwillinge geboren. Daraufhin habe der König Amulius die Priesterin Rhea Silvia im Tiber ertränken und die Zwillinge im Fluss aussetzen lassen. Der Flussgott Tiber habe die Vestalin jedoch gerettet und geheiratet, und die Schergen des Königs hätten aus Mitleid die Kinder ebenfalls nicht ertrinken lassen, sondern auf ein Floß gesetzt, das wenig später gestrandet sei. Eine Wölfin habe darauf die Kinder gerettet und gesäugt, bis sie vom Hirten Faustulus und dessen Frau Acca Larentia aufgezogen worden seien.
Bei vielen Kulturen kann man Aussetzungsmythen finden, die sich ähneln, obwohl die einzelnen Völker kaum miteinander in Berührung kamen. Die Mythen folgen dabei einem bestimmten Schema und die ausgesetzten Kinder werden am Ende meist Helden, Kulturstifter, Religionsstifter, Begründer von Städten oder Ähnliches. Da Mythen meistens zwar völlig erfundene Geschichten sind, doch aus Deutungen, Interpretationen, metaphorischen Schilderungen und fantasievoll ausgeschmückten Darstellungen realer Begebenheiten der jeweiligen Zeitepochen entstanden sind, hängen auch die Aussetzungsmythen vage und mutmaßlich mit der Realität zusammen. Nicht eindeutig auszumachen ist jedoch, in welcher Weise sie mit der Realität zusammenhängen. Seit die Menschheit existiert, wurden in jeder Epoche tatsächlich Kinder nach der Geburt aus unterschiedlichen Gründen ausgesetzt oder getötet. Und diese Praxis findet sich denn auch in den Mythen unterschiedlicher Völker wieder.
Die Gründe für Kindesaussetzungen sind sehr verschieden: wirtschaftliche Gründe, Missbildungen und körperliche Gebrechen, Aussetzen von Mädchen und Zwillingen, Aussetzen illegitimer Kinder, Weissagungen, Orakelsprüche, Opferung oder Darbietung der Kinder an die Götter und vieles mehr. Diese oft belegbaren grausamen Praktiken führen dann zur Annahme oder sogar zur Behauptung, dass sich auch in den Mythen wahre Begebenheiten widerspiegelten, wofür es selten konkrete Hinweise und so gut wie nie handfeste Beweise gibt.
Dass menschliche Neugeborene von Tieren großgezogen werden, kommt ebenfalls in Mythologie und Literatur immer wieder vor. Hier seien nur einige wenige Bespiele erwähnt: Perseus in der griechischen Mythologie ist ein legendärer Held, der von einer Ziege namens Amalthea aufgezogen wird. Tarzan in der gleichnamigen Roman- und Filmreihe habe im afrikanischen Dschungel in einer Familie von Gorillas überlebt. In der türkischen Legende von ‹Asena› wird erzählt, dass der Stamm der Göktürken von einer Wölfin gegründet worden sei, die menschliche Babys gefunden und aufgezogen habe. In ‹Das Dschungelbuch› (Original ‹The Jungle Book›) von Rudyard Kipling zieht eine ganze Wolfsfamilie unter Führung der Wölfin Raksha den Antihelden Mowgli (Frosch) zusammen mit ihrem eigenen Wurf auf. Die Wölfe bringen ihm alle Fertigkeiten bei, die er zum Überleben im Dschungel benötigt.
In der Realität ist es äußerst unwahrscheinlich, wenn nicht gänzlich unmöglich, dass eine Wölfin menschliche Zwillinge wie Romulus und Remus aufziehen könnte. Wölfe versorgen ihre Jungen mit Milch und Nahrung, um deren Überleben zu sichern. Die Pflege von menschlichen Neugeborenen erfordert eine völlig andere Versorgung und Fürsorge, die ein Wildtier nicht einmal teilweise oder mit erheblichen Einschränkungen bieten könnte. Daher ist es rein fiktiv und höchstens symbolisch, wenn die vermeintliche Historie besagt, dass Romulus und Remus von einer Wölfin aufgezogen worden seien.
Wie kann die Linguistik dazu beitragen, den Schleier über die Geschichte von Romulus und Remus wenigstens ein bisschen zu lüften? — Um ehrlich zu sein, überhaupt nicht. Die Sprachwissenschaft muss sich in dieser Angelegenheit damit begnügen, ein paar wenige linguistische Fakten zu liefern, um vielleicht Historikerinnen und Historiker, Archäologinnen und Archäologen auf eine Spur zu lenken, die es allerdings wohl kaum ermöglichen wird, etwas anderes als bloße Hypothesen aufzustellen. Verifizieren wird sich nichts mehr lassen. Es sei denn, man würde noch auf eine verlässliche zeitgenössische schriftliche Quelle aus dem 6. vorchristlichen Jahrhundert stoßen, was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen ist. Dies also, was die Sprachwissenschaft dazu zu sagen hat:
Ein Lupanar war im antiken Rom ein Bordell. In einem solchen Bordell in Pompei wurden neben expliziten Illustrationen in und am Gebäude auch Inschriften und Graffiti gefunden, die im ‹Museo Archeologico Nazionale› in Neapel restauriert, konserviert, aufbewahrt, darüber hinaus kopiert und in hochwertigen Faksimile ausgestellt sind und die auf Art und Häufigkeit der Nutzung jener Einrichtung hindeuten. Hier bloß einige davon:
HIC EGO PUELLAS MULTAS FUTUI | Hier habe ich viele Mädchen gefickt |
MURTIS BENE FELLAS | Myrte, du bläst gut |
FUTUTA SUM HIC | Hier wurde ich gefickt |
Die Frauen, Mädchen und Jünglinge, die in einem Lupanar ihre Dienstleitung anboten, wurden ‹lupae› genannt, was ein gängiges Wort für ‹Prostituierte› war. ‹Lupa› bedeutet jedoch auch, zuerst und vor allem ‹Wölfin›. Und nun erinnern wir uns an den eingangs erwähnten Quintus Fabius Pictor, der als Erster die Geschichte erzählt. Er erwähnt, dass Romulus und Remus dann von einer gewissen Acca Larentia, Frau des Hirten Faustulus, aufgezogen worden seien, über die er nichts Weiteres sagt, als dass sie ‹von schlechtem Ruf› gewesen sei. — Könnte es vielleicht sein, dass der schlechte Ruf der neben dieser einzigen Erwähnung völlig unbekannten Acca Larentia mit ihrer früheren möglichen Tätigkeit als «Wölfin» zusammenhing?
Freilich liegen zwischen den Schriften des Quintus Fabius Pictor und dem Lupanar in Pompei mindestens zweihundertfünfzig Jahre, in denen sich die metaphorische Bedeutung und die Verwendung eines Wortes ändern können. Doch sowohl das Wort ‹lupa› als auch das Wort ‹lupanar› sind bereits früher belegt. Darüber hinaus ist mit ‹lupanar› die Einrichtung, der Ort, das Haus gemeint, wo die ‹lupae› arbeiten, folglich ist ‹lupanar› von ‹lupa› abgeleitet und nicht umgekehrt und es bedurfte einer gewissen Zeit, bis es sich im allgemeinen Sprachgebrauch durchsetzte. Und schließlich sind Wolf und Wölfin in lateinischen Wendungen und Sprichwörtern seit jeher mit der Vorstellung von Gier, moralischer Verwerflichkeit und Skrupellosigkeit verbunden und haben bis in die ‹Kinder- und Hausmärchen› der Gebrüder Grimm und in die aktuellen Presseberichte ein sehr nachteiliges Image.
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CONIECTURA VERISIMILISSIMA. MAGNAS GRATIAS TIBI AGO
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Verba tua mihi blandiuntur et tibi quoque gratias ago.