Die Farben im Kopf

Alberigo Tuccillo Kunst und Kultur, Wissenschaft

Seit einigen Jahren publiziere ich auf Facebook, und seit kurzem auch auf Instagram, im Durchschnitt einmal alle zwei Wochen, Aphorismen in einer Form, die von den Haiku-Regeln meistens nur die Anzahl der Silben pro Zeile einhält. Von schätzungsweise fünfzig oder sechzig Freundinnen und Freunden bekomme ich jeweils ein, höchstens zwei Dutzend «Gefällt mir», höchst selten einen Kommentar. 

Als ich jedoch den folgenden Aphorismus postete:

Sterne leuchten nicht,
Blumenwiesen sind nicht bunt,
Farben sind im Kopf.

hagelte es Proteste und Äußerungen der Entrüstung. Besonders liebenswert und poetisch fand ich: «Die Sterne haben uns gewiss nicht nötig, um zu leuchten!»

Um Missverständnisse gar nicht erst aufkommen zu lassen, möchte ich vorausschicken, dass wir in keiner Weise und in keinem Augenblick in Frage stellen, dass die wunderbaren Farben — ob wir sie beim Betrachten eines Blumengartens, des Krebsnebels durch das Hubble-Teleskop oder der Sixtinischen Kapelle sehen — etwas so Atem beraubend und zugleich Atem spendend Schönes sind, dass sie allein schon genügen, dem Leben der staunenden Betrachtenden einen Sinn zu verleihen. Insofern bin ich vom Satz «Die Sterne haben uns gewiss nicht nötig, um zu leuchten!» berührt. Er drückt eine Demut aus, die mir aus der Seele spricht und die wir nie verlieren sollten. (Und jenen, die sie bereits verloren haben, wäre zu wünschen, dass sie sie schnell zurückgewinnen.)

Die Frage ist also nicht, ob die Farben schön sind, sondern allein, wo sie entstehen. Und da muss man sagen, dass die edle Behauptung «Die Sterne haben uns gewiss nicht nötig, um zu leuchten!» falsch ist. — Sterne haben uns zwar nicht unbedingt nötig, um zu leuchten, aber ein sehendes Wesen brauchen sie halt schon. Es kann ein Primat, ein Insekt, ein Gürteltier oder ein Vogel sein. Aber es genügt nicht einmal ein Auge — es braucht auch ein Nervensystem, sonst bleibt alles dunkel.

Wie können wir so etwas behaupten? — Nun: Das, was wir als Licht bezeichnen, sind elektromagnetische Wellen, und elektromagnetische Wellen haben zwischen einem Billiardestel Meter und zehn Millionen Kilometer Wellenlänge. Aus diesem unvorstellbar breiten Spektrum heraus ist nur ein winziger Bereich, nämlich von 380 nm (violett) bis 780 nm (rot), also etwa eine Oktave, sichtbares Licht. Das Universum ‹leuchtet› aber nicht bloß im winzigen sichtbaren Bereich, sondern genauso im niederfrequenten Bereich, im Radiowellen- und Mikrowellenbereich, im UV-, Röntgen- und Gammabereich. Unsere Smartphones ‹leuchten› (gemeint ist nicht das Display), die Sendeantennen der Radio- und Fernsehstationen ‹leuchten›, und auch wir selbst ‹leuchten› selbst in völliger Dunkelheit, im Infrarot-Spektrum. Wir können dieses ‹Licht› bloß nicht sehen.

Nun könnte man einwenden, dass das sichtbare Licht, auch wenn es nur ein verschwindend kleiner Ausschnitt aus dem enormen Spektrum der elektromagnetischen Wellen ist, eine besondere Qualität aufweisen könnte, die der Physik einfach nicht bekannt oder für die Physik nicht fassbar ist. — Dem ist aber nicht so. Verschiedene Lebewesen sehen nicht genau dasselbe Spektrum. Bienen und Kraken sehen Wellenlängen, die für Menschen so unsichtbar sind wie unsere Blutbahnen (die für Stechmücken leider nicht unsichtbar sind).

Jetzt haben wir aber immer noch nicht erklärt, warum es Farben — unabhängig davon, ob wir sie sehen oder nicht — außerhalb des Gehirns nicht geben soll.

In unserem Auge gibt es Zellen, Rezeptoren, die durch gewisse Wellenlängen gereizt, angeregt werden und durch andere nicht. So werden die einen Farben von den einen Zellen registriert, andere von anderen. Doch wir haben nicht für jede Farbe eine bestimmte Art von Rezeptoren. Die Rezeptoren reagieren in einem Bereich. So kann das Auge beispielsweise genau gleich reagieren, wenn ‹grünes› Licht oder wenn gleichzeitig ‹blaues› und ‹gelbes› Licht auf die Netzhaut trifft. Geräte in Laboratorien können das sehr wohl und sehr genau unterscheiden; und vielleicht können es andere Lebewesen auch, vielleicht besser oder schlechter als wir Menschen. Deshalb könnte es durchaus sein, dass das Grün einer saftigen Wiese, die eine Malerin unserer Meinung nach so treffend und echt auf ihrer Palette gemischt hat, für ein anderes Tier nicht als grün, mithin nicht als Wiese erkannt wird. Und wenn wir bedenken, dass wir alles, was wir auf einem Bildschirm sehen, nur in drei Farben dargestellt bekommen, müssen wir uns fragen, was unser Hund oder unsere Katze sieht, wenn sie mit uns zusammen fernsehen.

Von den lichtempfindlichen Zellen geht bloß ein elektrischer Impuls zum Gehirn und dort werden aus diesen Impulsen die Farben gedeutet, ja eigentlich erfunden.

Es ist schwer zu ertragen, dass es so ist. Das gebe ich zu. Aber vielleicht hilft eine Analogie. — Wenn ich mein Gratin aus dem Backofen nehme, nicht vorsichtig bin und mich am Finger brenne, spüre ich einen Schmerz. Niemand würde wohl denken, dass der Schmerz im Backofen lauerte und im günstigen Augenblick auf meinen Finger sprang. Die Wärme, ja, die war im Backofen, und die große Hitze hat die Schmerzrezeptoren meiner Haut dermaßen angeregt, dass mein Finger grauenhaft schmerzte.

«Der Finger!», würde jetzt mein lieber Freund mit den leuchtenden Sternlein einwenden, «aber doch nicht der Kopf!» — Nein, mein Lieber! Nicht der Finger. Der Kopf.

Wenn mein Nerv durchtrennt oder auch bloß zeitweise durch eine lokale Anästhesie außer Gefecht gesetzt wäre, würde mein Finger nicht schmerzen. Und sogar das gibt es: Ein Finger, eine Hand, ein Bein kann sogar dann schmerzen, wenn der Körperteil amputiert ist. Der Schmerz, genauso wie die Farben, genauso wie für Beethoven die Musik, ist nur im Kopf. — Und ist Beethovens Musik nicht ein Trost dafür, dass die Sterne nicht leuchten?