Erfahrungsbericht über die ersten zwölf Tage im Pensionär-Leben des A.

Alberigo Tuccillo Gesellschaft

Ich muss gleich zu Beginn betonen, dass ich als Pensionär nichts als ein blutiger Anfänger bin und dass ich keinen Anspruch erhebe, die Transzendenz der Rentnerhaftigkeit an sich in ihrer ganzen ontologischen Bedeutung erfasst zu haben. Es könnte ganz gut der Fall sein, dass sich aus diesen ersten zwölf Tagen mit der Zeit eine ganz andere Geschichte ergibt, denn erstens bin ich, wie gesagt, ein unerfahrener AHV-Neuling, zweitens kein Prophet und drittens als Blogger durchaus an Veränderungen und Kurskorrekturen interessiert, die ich dann später niederschreiben und veröffentlichen kann. — Noch etwas: die Zahl zwölf der ersten Tage meines Ruhestandes ist selbstverständlich eine vollkommen zufällige Zahl. Sie hat genauso wenig eine Bedeutung, wie sie in ‹die zwölf Apostel›, in ‹die zwölf Stämme Israels›, in ‹die zwölf Monate des Jahres›, in ‹die zwölf goldenen Teller› für die zwölf weisen Frauen im Dornröschen, in ‹die zwölf Tierkreiszeichen›, in ‹die zwölf Stunden des Tages und der Nacht› und in ‹die zwölf Löcher des Eierhalters in der Kühlschranktür› hat.

Das friedliche Zeitalter des Ruhestandes, sozusagen das Echemythiozän, beginnt damit, dass der frisch Pensionierte am ersten, am zweiten, am dritten… Morgen genau zu der Zeit erwacht, zu der ihn während Jahrzehnten der durchaus verwünschenswerte Wecker mit seiner gnadenlosen Schädlichkeit für alle Körperfunktionen immer geweckt hat. Der frisch Pensionierte denkt jedoch dialektisch und grundsätzlich positiv. Sofort erkennt er zu dieser ruchlosen These, auf den Stockzähnen grinsend, auch die Antithese: Er kann jetzt, anders als in den vierzig (auch diese Zahl ist zufällig und soll nicht mit Quarantäne und Fastenzeit in Verbindung gebracht werden!) vorangehenden Jahren, liegen bleiben und sogar weiterschlafen. Wie sollte er sich denn seines neuen Privilegs vollkommen bewusst werden und dieses wunderbare Privileg in vollen Zügen genießen können, die ersehnte Metamorphose vom Homo Faber zum Homo Quiescans geradezu physisch zu erleben, wenn er den anbrechenden Tag voll Hektik, voll Vorgaben und fremden Erwartungen, den er jetzt mit amtlich abgesegnetem Fug und Recht ignorieren darf, sozusagen verschlafen würde? — Er lächelt selig, drückt die Wange erneut ins Kissen und schläft weiter.

Die Dialektik aber — für den, der sich auskennt — kommt selten nach der ersten Runde zwischen These und Antithese gleich zur Synthese! In der Regel geht das Hin und Her munter über viele Runden weiter. Und wird der Wecker, wie es sich für einen Rentner gebührt, auch fortan, zusammen mit den andern Jugenderinnerungen, liebevoll im Estrich aufbewahrt, findet die listenreiche Realität immer Mittel und Wege, die Ruhe nicht allzu jäh und wuchtig ausbrechen zu lassen! Klingelt der Wecker nicht, so klingelt halt das Telefon!

Wer ist es denn, der in aller Hergottsfrühe den Rentner aus seiner kuscheligen REM-Phase reißt, in die er eben wieder abgetaucht war? — Es ist ein lieber Freund! Eine liebe Freundin! Eine ehemalige Schülerin oder ein ehemaliger Schüler! Ein ehemaliger Kollege oder eine ehemalige Kollegin. Es sind Verwandte, Bekannte, Jugendbekanntschaften, Leute, die man noch gar nicht kennengelernt hat, Leute, an die man Jahrzehnte lang nicht mehr gedacht hatte oder die einem seit jeher ans Herz gewachsen sind. Es sind Leute, die den Rentner lieben oder wenigstens hoffen, ihn bald lieben zu dürfen — jetzt, da er ja Rentner ist. Es sind Leute, die sich um ihn kümmern und um jeden Preis verhindern wollen, dass er in seinem Übergang zum neuen Lebensabschnitt scheitert, sich plötzlich überflüssig, ohne Lebensaufgabe fühlt, ausgedient vorkommt und am Ende noch in eine existenzielle Not gerät, schlimmer noch: in den Abgrund der Depression stürzt. Wer aus der Geschichte zu lernen bereit ist, kann mit Leichtigkeit ebenso viele berühmte wie tragische Beispiele nennen für nicht glückhafte Morgendämmerungen manches Lebensabends!

Geradezu ergreifend ist die bedachte Wortwahl, mit der die Telefonate jeweils eröffnet werden. Man erfährt durch sie unmissverständlich, dass man nicht im Stich gelassen wird, dass immer jemand da ist, der oder die einen daran erinnert, dass man die Hoffnung nie verlieren darf, dass das wahre Leben nicht vorbei und noch immer überschwänglich reich ist an Krankenkassenprämien, an Steuererklärungen, an Terminen bei der Dentalhygiene, dass der Geschirrspüler noch immer gestartet und danach geleert werden will und dass der Wäschekorb immer voll ist und die Waschküche besetzt. Die Frage, die dem Neurentner am Telefon stets gestellt wird, geht unter die Haut! Tief unter die Haut. So tief unter die Haut, dass sie die Nervenendigungen streift: «Und? Was machst du jetzt den lieben langen Tag?»

Wie leicht könnte der Pensionierte, wäre er ein oberflächlicher Mensch, verkennen, wie viel Solidarität, Zuneigung, menschliche Wärme, ja Liebe aus solchen Worten klingt, und wie wenig sie mit persönlichen Vorteilen und Interessen zu tun haben! In Tat und Wahrheit wollen diese selbstlosen Mitmenschen nichts anderes, als, wie bereits gesagt, verhindern, dass der Pensionierte, nunmehr ohne Halt und Sinn, seinen Lebensherbst gleichsam überspringt und geradewegs im frostigen Winter erstarrt. Diese überaus freundlichen Wesen bleiben denn auch nicht bei den genannten hehren Worten stehen, ohne konkrete Vorschläge darüber zu machen, wie der verheerenden Starre der senilen Untätigkeit wirksam vorzubeugen ist. Im Gegenteil: Mit viel Fantasie und Einfühlungsvermögen werden dem jäh aus dem produktiven Leben geworfenen pensionierten Menschen kleine Aufgaben gestellt, nichts wirklich Anstrengendes, nur Liebliches, Erquickendes, leichte Beschäftigungen, die ihn eben beim Rasten vor dem Rosten bewahren sollen: das Korrigieren einer Bachelor-Arbeit, das Schreiben der Laudatio für eine emeritierende Professorin, eine Stellvertretung für einen erkrankten Kollegen übernehmen oder das Präsidium eines Vereins, das Entziffern und Übersetzen einer kaum leserlichen mittelalterlichen Handschrift, eine Rede zu einer Preisverleihung halten, das Verfassen des Vorworts zu einer Festschrift… — kurz die kleinen, so leicht zu übersehenden Dinge des Lebens, die Dinge, die es überhaupt lebenswert machen, die man seit der Studienzeit und über Jahrzehnte immer gern gemacht hat, und von denen man sich offenbar nicht von heute auf morgen verabschieden sollte. — Trotzdem! Auch wenn ich für all die Fürsorglichkeit dankbar bin und mir alles vollkommen einleuchtet: Ich möchte jetzt mit der Tollkühnheit eines Pensionärs das volle Risiko eingehen, nur noch Geschichten, Gedichte und Musik zu schreiben, ins Theater und ins Konzert zu gehen, zu spazieren, in Buchhandlungen herumzustöbern… und freilich den Geschirrspüler ab und an zu starten — die Waschküche ist ja sowieso immer besetzt.