Wer zwei- oder mehrsprachig aufgewachsen ist, weiß, dass es in den verschiedenen Sprachen nicht für jedes Wort eine Entsprechung gibt und dass man gewisse Gedanken nicht bloß nicht übersetzen, sondern in einer andern Sprache nicht einmal denken kann. Das ist ein Gemeinplatz, und wissen tun es natürlich auch Einsprachige. Mehrsprachige wissen es bloß auf eine andere, auf eine unmittelbarere Weise, weil sie täglich die Erfahrung machen, dass sie in ihren verschiedenen Sprachen selbst jeweils anders und anderes denken. Und je weniger diese Sprachen miteinander verwandt sind, desto stärker unterscheidet sich das Denken, das durch sie möglich ist.
Das Verfügen über die nötigen Begriffe und über grammatikalische und syntaktische Strukturen bedingt nicht nur das Denken — erstaunlicherweise sogar die sinnliche Wahrnehmung! Wenn man in einem Weinkurs das einschlägige Vokabular vermittelt bekommt und sich durch Degustieren im Benennen der Geschmacks-, Duft- und Farbnoten der Weine übt, beginnt man die Unterschiede zwischen ihnen auch wahrzunehmen. Wenn man die Intervalle mit ihren Namen kennt und Dur von Moll unterscheiden kann, merkt man sich Melodien einfacher. Einer Malerin, einem Restaurator und einer Grafikerin, die für Hunderte von Farben Namen haben, fällt sofort auf, wenn auf einer Reproduktion eines Gemäldes die Farben nicht stimmen.
Und darauf will ich in dieser Nummer hinaus: auf die Farben! — In der modernen und weitgehend globalisierten Welt haben die meisten Sprachen inzwischen alle nötigen Wörter, um die Farben der Kleider, der Autos und der Smartphone-Hüllen zu bezeichnen. Doch dem war lange nicht so!
Das Farbspektrum ist physikalisch ein Kontinuum, wird aber sprachlich in einzelne Abschnitte zerlegt, was den Vergleich von Farblexemen in verschiedenen Sprachen für die Linguistik interessant macht. Die Frage, die sich dabei stellt, ist, ob in den jeweiligen Sprachen diese Bereiche des Spektrums willkürlich gesetzt, also kultureller Natur sind oder universell. Sind diese in allen Sprachen also deckungsgleich? Das spräche für ein physiologisch bedingtes Muster. Tatsächlich lassen sich jedoch in vielen Sprachen grundlegend verschiedene, nicht deckungsgleiche Unterteilungen finden. So gibt es im Lateinischen keine Lexeme für grau und braun, Navajo (eine nativ-amerikanische Sprache) hat ein gemeinsames Wort für blau und grün, aber zwei für schwarz: eines für Gegenstände, die schwarz sind, weil sie nicht beleuchtet sind, und eines für Gegenstände, die schwarz sind, obwohl sie beleuchtet sind. Im Russischen gibt es kein Blau, stattdessen die zwei Farben ‹синий› (sinij) und ‹голубой› (goluboj) für Dunkelblau und Himmelblau. In einigen Sprachen kommen nur sehr wenige Farblexeme vor, so im Hochland von Neuguinea, wo einige Völker nur zwischen schwarz und weiß unterscheiden.
Die Sprachforscher B. Berlin und P. Kay haben 1969 bei einer Untersuchung der Farbsysteme von 98 Sprachen folgende Erkenntnis gewonnen: Es gibt ein universelles Inventar von grundlegenden Farbkategorien, das je nach Sprache entweder vollständig oder teilweise — aber stets in dieser festen Rangfolge! — ausgeschöpft wird:
1. weiß, schwarz,
2. rot,
3. grün, gelb,
4. blau,
5. braun,
6. violett, rosa, orange, grau.
Das heißt: eine Sprache, die gelb/grün unterscheidet, unterscheidet auch weiß, schwarz und rot, aber nicht notwendigerweise blau. Eine Sprache, die das Blau kennt, unterscheidet auch alle rangtieferen Farben, aber nicht notwendig das Violett und das Orange.
In der deutschen Sprache treten die Farben ‹Orange› (15. Jahrhundert) und ‹Violett› (Ende 17. Jahrhundert) verhältnismäßig spät auf. Darüber hinaus verschiebt sich im Laufe der Zeit der Bereich des Farbspektrums, der mit einem bestimmten Begriff bezeichnet wird, und diese Verschiebungen sind nicht im ganzen Sprachraum einheitlich.
Wichtig ist zu wissen, dass wer kein Wort für eine Farbe hat, sich eine Farbe auch nicht merken kann! Paul Watzlawick bewies dies mit einem einfachen Experiment, das er mit Hopi-Indianern durchführte, die nicht Englisch konnten, und solchen, die Englisch konnten. Während des Experiments wurde ausschließlich Hopi gesprochen. Man gab allen Probanden eine orange Kugel in die Hand, die sie in je eine Schachtel legen mussten, in der schwarze, blaue, rote, grüne und weiße Kugeln identischer Größe waren. Danach wurden die Schachteln geschlossen. Ohne dass die Probanden es merkten, wurden die orangen Kugeln durch gelbe ersetzt. Nach einer bestimmten Zeit wurden die Probanden aufgefordert, die Kugel, die sie in der Hand gehalten hatten, wieder aus der Schachtel zu nehmen. Alle Hopi, die nicht Englisch konnten, nahmen die gelbe Kugel aus der Schachtel, alle Hopi, die Englisch konnten, sagten, die Kugel sei nicht mehr da.
Kommentare 2
Wie interessant, ich wusste nichts von diesen Wahrnehmungseinschränkungen.
Ein kleiner, aber beeindruckender Hinweis, wie schwer oder gar unmöglich es sein kann, sich zu verstehen.
Author
Ich teile deine Ansicht uneingeschränkt und danke dir herzlich für deinen Kommentar! Ich glaube, dass der Versuch, die Sprachen anderer Kulturen und Wesensarten in ihren tiefen Strukturen zu verstehen, ein wesentlicher Beitrag zur gegenseitigen Akzeptanz, mithin zu einem friedlichen und für alle Seiten gewinnbringenden Zusammenleben sein kann. Diese Hoffnung spornt meine ohnehin schon große Liebe zu allen Sprachen stetig an.