ʼO SOLE MIO

Alberigo Tuccillo Gesellschaft, Kunst und Kultur, Literatur, Musik, Sprache Schreibe einen Kommentar

Es gibt offenbar einige Irrtümer zu berichtigen über das wohl berühmteste, aber so häufig wie kaum ein anderes missverstandene neapolitanische Lied. Zum schlechten Ruf der vermeintlichen Schnulze wird wohl allein schon die nicht auszumerzende falsche Schreibung des Titels beigetragen haben! Wer ‹Oh Sole mio› schreibt, verrät bereits dadurch, einem folgenschweren Vorurteil aufgesessen zu sein. Das ‹ʼo› ist hier keine Interjektion, kein Ausruf ungezügelter Begeisterung, sondern schlicht der Artikel — maskulin, singular, basta! ‹ʼo sole mio› heißt nichts anderes als ‹meine Sonne›, und dies nicht in einem touristischen, urlaubswerbetechnischen, sondern, wie ihr gleich sehen werdet, in einem ganz nüchternen astronomischen Sinn. Nichts von Strand, Badeanzug, Sonnenhütchen und Sonnenschutzfaktoren.

Wir kommen gleich dazu, aber zunächst kurz zum Einwand, den man an dieser Stelle üblicherweise vorbringt: Wozu braucht es vor ‹meine Sonne› noch einen Artikel? — Dazu muss ich etwas ausholen: ‹Meine› ist auf Deutsch ein Possessivpronomen oder ein besitzanzeigendes Pronomen. Es sagt aus, wem die Sonne zugeordnet ist. Und Pronomina ersetzen den Artikel. Auf Italienisch ist ‹mio› aber nicht ein Possessivpronomen, sondern ein ‹aggettivo possessivo›, ein besitzanzeigendes Adjektiv. Auf Italienisch ist die Zugehörigkeit einer Sache eine Eigenschaft der Sache. Beispielsweise: Eine Tasche hat verschiedene Eigenschaften: Sie ist teuer, nützlich, schwer oder leicht, voll oder leer, vornehm, elegant… und die meine! — Also, Italienisch: ‹lo studente bravo› (der tüchtige Schüler), ‹lo studente mio› (mein Schüler), neapolitanisch: ‹ʼo storent valurus› (der tüchtige Schüler), ‹ʼo storent mio› (mein Schüler), oder eben: ‹ʼo sole mio› (meine Sonne).

Darüber, dass die meisten, die das Lied grölen, um es zu verspotten, jeweils nur die ersten Noten des Refrains der Spur nach kennen und dann aus vollem Halse ‹ʼo sole mio› posaunen, will ich nur so viel sagen: Der Text zu diesen Noten ist nicht ‹ʼo sole mio›, sondern ‹ma n’atu sole cchiu‘ bello, oi ne’› (eine andere Sonne gibt es nicht…) — und das wäre für das Verständnis wichtig.

Wichtig für das Verständnis ist aber auch die Entstehungsgeschichte des Liedes: Der Dirigent und Komponist Eduardo Di Capua befand sich 1898 mit dem Neapolitanischen Staatsorchester auf Tournee in Odessa. In Odessa und auf der Krim lebten seit dem Hochmittelalter viele Italiener und pflegten mit den Städten Venedig, Genua, Pisa, Amalfi, später besonders Neapel, rege Handelsbeziehungen und engen kulturellen Austausch. Das Stadtbild, die Architektur ist, wie man heute noch unschwer erkennt, von italienischen Architekten geprägt und die meisten Einwohner der Perle des Schwarzen Meeres sprachen fließend und hervorragend sowohl Italienisch als auch Neapolitanisch. Di Capua war in seinem Element und fühlte sich zu Hause.

Trotzdem hatte er an einem Abend Heimwehs und konnte nicht einschlafen. Als am Morgen die Sonne aufging und durch das Hotelzimmer schien, kam ihm die Melodie zu ‹’o sole mio› in den Sinn. Di Capua unterlegte die Melodie mit den Versen seines ebenfalls neapolitanischen Freundes, des Dichters Giovanni Capurro. Darin drückt er folgenden Gedanken aus: «Es hebt ein sonniger Tag an nach einer kalten, stürmischen Nacht. Ich bin weit weg, vermisse dich und blicke in die aufgehende Sonne. Wenn du nun aber (in Neapel) auch in die Sonne siehst, dann ist es dieselbe Sonne. Eine andere Sonne gibt es nicht. Sie, die Einzige, ist es, die uns immer wärmt und verbindet, wo wir auch sind.»

Das Lied ist übrigens meisterhaft komponiert und wurde von Puccini, Mascagni, Mahler, Stravinskij und Wohnlich geschätzt und gewürdigt. Werft doch einmal einen Blick in die Noten!

https://www.youtube.com/watch?v=6oAz85G5MUQ

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert