Anfang und Beginn

Alberigo TuccilloSprache Schreibe einen Kommentar

Viele abstrakte Wörter des heutigen Sprachgebrauchs bezeichneten ursprünglich konkrete Dinge und Sachverhalte. Erst sehr viel später sind diese Begriffe und Wendungen über die Verwendung als Metapher zum Abstraktum geworden. Dabei ist die ursprüngliche konkrete Bedeutung heute meistens gänzlich verloren gegangen und den Sprecherinnen und Sprechern einer Sprache im Allgemeinen nicht mehr bewusst.

Dazu einige Beispiele:

Unter ‹Skrupel› versteht man heute ‹Bedenken, Zweifel oder Gewissensbisse, die zu Hemmungen führen›. Das Wort ‹Skrupel› ist jedoch das lateinische ‹scrupulus›, Diminutiv von ‹scrupus› (Stein), also ‹Steinchen›. Wer ein Steinchen im Schuh hat, muss vorsichtig gehen und seine Füße behutsam auf den Boden aufsetzen, damit er sich selbst keine oder zumindest wenig Schmerzen zufügt. Wenn er dann das Steinchen aus dem Schuh entfernt hat, kann er wieder bedenkenlos, ungehemmt, eben skrupellos auftreten und seine Stiefelsohlen auf das Straßenpflaster schlagen. Das Bild des ungehemmt und steinchenlos Daherschreitenden wurde darauf als Metapher für jedes von irgendwelchen, auch und vor allem von moralischen Einschränkungen entledigtes Handeln verstanden. — Ein weiteres Beispiel ist die lateinische verbale Wendung ‹os tendere› (den Mund hinhalten, den Mund zeigen). Wann zeigt man jemandem den Mund oder hält man jemandem den Mund hin? Wenn man beim Zahnarzt oder bei der Ärztin ist, wenn man eine besondere Mimik mit Nachdruck verdeutlichen will, wenn man einem Schwerhörigen ermöglichen will, die ausgesprochenen Silben zugleich von den Lippen abzulesen, wenn man einen Menschen küssen möchte — jedenfalls dann, wenn man eine Intention oder eine Disposition deutlich machen will. Daraus hat sich das heute ausschließlich in der metaphorischen Bedeutung verwendete Adverb ‹ostentativ› gebildet, das ‹berechnend und bewusst auf Beachtung ausgerichtet, zur Schau gestellt, in herausfordernder Weise veräußert…› bedeutet.

Die Liste der Konkreta, die zu Abstrakta wurden, ließe sich beliebig fortsetzen. Nun aber zum Anfang:

‪Die heute übliche Form ‹anfangen› hat sich im Frühneuhochdeutschen (Ende 16., Anfang 17. Jahrhundert) gegenüber der älteren Formen ‹anefahen› (mittelhochdeutsch) und  ‹anafāhan› (althochdeutsch) durchgesetzt, wie auch beim einfachen Verb die jüngere Form ‹fangen› die ältere Form ‹fahen› und ‹fahan› verdrängt hat. Die ursprüngliche Bedeutung war ‹anfassen, anpacken, in die Hand nehmen›. Mit ‹anfangen› waren ursprünglich alle Vorkehrungen und Vorbereitungen gemeint, die getroffen wurden oder getroffen werden mussten, um eine Beute oder einen Übeltäter zu fangen, also: Waffen richten, Fallen stellen, Köder vorbereiten, Netze knüpfen, Bevölkerung warnen, Proviant für die Jagd oder Menschenjagd bereitstellen, Pferde satteln, Hunde abrichten…

Das Wort ‹Anfang› wurde, wie bereits gesagt, im 16. Jahrhundert aus der martialischen Sprache und dem Jägerjargon emanzipiert, sodass Luther den Anfang der Genesis mit ‹Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde› anfangen konnte. Interessant ist aber, dass noch Ende 18. und Anfang 19. (sic!) Jahrhundert ein ‹Anfänger› nicht einer war, dem an Erfahrung und Routine fehlte, dem man folglich einen Mangel an Fertigkeit und Geschick noch nachsehen musste, sondern einer, der mit etwas Bedeutsamem angefangen hatte: Gott war also der Anfänger von Himmel und Erde, Johannes Gensfleisch von Gutenberg der Anfänger des Buchdrucks mit mobilen Lettern, und heute würden wir, hätte das Wort die Bedeutung beibehalten, Albert Einstein den Anfänger der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie nennen.

‪Das Wort ‹beginnen› hat keinen solchen radikalen Wandel erlebt, ist jedoch aus andern Gründen (noch) rätselhaft: mittelhochdeutsch ‹beginen›, althochdeutsch ‹biginan›, niederländisch ‹beginnen›, englisch ‹to begin›, haben dieselbe Bedeutung und gehen zurück auf gotisch ‹duginnan›, altenglisch ‹onginnan›, altniederländisch ‹ontginnen›, was ‹urbar machen› bedeutete. Zurzeit lässt sich das Wort jedoch nicht auf einen indoeuropäischen Etymon zurückführen. Der Beginn scheint plötzlich begonnen zu haben, ohne auf eine ältere Ursache und Herkunft zurückzuweisen.

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