Fast dreißig Jahre später

Alberigo Tuccillo Literatur 3 Kommentare

In den Neunzigerjahren hatte ich eine meiner schönsten Lesungen in der Allgemeinen Lesegesellschaft in Basel. Die inzwischen leider geschlossene Buchhandlung ‹Das Narrenschiff› hatte die Veranstaltung organisiert und den Bücherverkauf übernommen. Der Dichter und damalige Feuilleton-Redaktor der ‹Basler Zeitung›, Urs Allemann, schrieb anderntags einen sehr klugen Artikel über das Event und über die vorgetragenen Texte. Ich war sehr glücklich.

Fast dreißig Jahre später sind nun meine ‹Geschichten ohne festen Wohnsitz› erschienen, und ich werde mir jetzt erst gewahr, dass sie mit jener Lesung in der Lesegesellschaft etwas zu tun haben. Neben dem klugen Urs Allemann saß ein nicht ganz so kluger Journalist einer anderen Zeitung, und dieser meldetet sich im Diskussions- und Konversationsteil zu Wort. Ich muss noch vorausschicken, dass ich das Vergnügen hatte, den Mann nicht zu kennen und nach seinem Auftreten auch nie wieder zu sehen. Er sprach ein gewähltes, nahezu akzentfreies Deutsch, doch mein in dieser Beziehung hypersensibles Ohr erkannte, was wohl den meisten verborgen blieb: er war Italiener. Ferner muss ich vorausschicken, dass ich aus ‹Die Leuchtturmgeschichte› und aus ‹Erzählungen aus hundert und einer schlaflosen Nacht› gelesen hatte, wo es um alles Mögliche geht außer um meine Identität. Ohne seinen Namen zu nennen (aus gutem Grund) sagte er schon ziemlich irritiert:

(Ich gebe hier den Dialog, wenn man ihn so nennen will, wörtlich wieder. Das kurze Wortgefecht brannte sich so klar und unauslöschlich in mein Gedächtnis, dass ich für jedes Wort die Hand ins Feuer lege!)

«Ich spüre in Ihren Texten Ihre Zerrissenheit nicht.»
«Warum sollte ich eine Zerrissenheit haben und warum möchten Sie die spüren?»
«Na! Sie sind doch ein halber Italiener!»
«Nein! Ein ganzer.»
«Wie? Sie sind nicht eingebürgert?»
«Doch, aber ganz. Ich wüsste auch gar nicht, welche Hälfte von mir ich hätte einbürgern lassen sollen, wenn ich’s nur zur Hälfte gemacht hätte.»
«Das ist doch jetzt reine Wortklauberei! Sie können doch nicht ganz Italiener und ganz Schweizer sein! Sie müssen doch zwischen Ihren Kulturen dividiert sein.»

‹Dividiert› geht hier nicht, mein liebes Journalistchen! Wenn Sie Italienisch reden, falls Sie es noch können, dürfen Sie in diesem Kontext ‹diviso› sagen. Aber wenn Sie Deutsch reden, müssen Sie sich um ein passenderes Adjektiv bemühen!

«Tja, es gibt eben mehrere Grundrechenoperationen! Sie haben sich für die Division entschieden, ich für die Multiplikation.»

Ohne dass ich mir dessen sofort bewusst war, fing an jenem Abend die Arbeit an, die ich nun fast dreißig Jahre später eurem Urteil übergebe: ‹Geschichten ohne festen Wohnsitz›.

Kommentare 3

  1. Die „Geschichten ohne festen Wohnsitz“ haben mir viele Stunden reinsten Lesevergnügens bereitet und mich einmal mehr in die fantasievolle Welt des Autors entführt.
    Ob ich nun den Emmentaler Kleinbauern Noldi auf seiner abenteuerlichen Schweizerreise begleitete, die zweimal unverhofft, unbeabsichtigt und erst noch unerwünscht die Landesgrenzen überschritt, oder schlussendlich Zeugin davon wurde, wie der erste Fall eines Privatdetektivs diesen gleich zweimal zu Fall bringen würde, einmal physisch und einmal psychisch…
    Diese unterhaltsamen und spannenden Geschichten haben nicht nur keinen festen Wohnsitz, sie sind wahrhaftig grenzenlos!

    1. Post
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      Danke, Sabina! Danke für das fantastische ermutigende Feedback! Darf ich deine Zeilen (mit oder ohne deinen Namen; wie du wünschst) als Leserreaktion verwenden?

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