Ist die Mehrheit normal?

Alberigo Tuccillo Gesellschaft, Philosophie, Sprache 2 Kommentare

Das spätlateinische Wort ‹norma› bezeichnete einen Tischler- oder Maurerwinkel, ein einfaches Gerät, das aus einem schmalen Brett zum Anschlagen und einer im rechten Winkel darauf angebrachten Schiene bestand, meistens aus Metall, die dazu diente, auf einem Balken, auf einem Brett oder auf einem Stein mit einer Ahle oder mit einem Griffel eine rechtwinklige Kerbe zu ritzen, um das Werkstück dann im rechten Winkel zu bearbeiten, irgendwo anzubringen oder zu befestigen. Die Wendung ‹extra norma› bedeutete ursprünglich ‹nicht im Lot›, ‹nicht im Winkel›, später dann allgemein ‹nicht sauber gearbeitet›, noch später sogar schlicht ‹nicht korrekt›, ‹nicht zulässig› oder ganz einfach ‹falsch›; unabhängig davon, ob man gegen handwerkliche, gesellschaftliche, gesetzliche oder grammatikalische Regeln verstoßen hatte.

NormNormalität und das davon abgeleitete Adjektiv normal bezeichnen heute das als selbstverständlich Erachtete, was nicht mehr erklärt und über das nicht mehr und nicht differenziert entschieden werden muss. Dieses Selbstverständliche betrifft Beschaffenheit, Vorkommen, Größe von Dingen, von Tieren, von Menschen, deren soziale Eingliederung, angeborene oder erworbene Eigenschaften, Charakteristiken und konkrete Verhaltensweisen.

Schon bevor Carl Friedrich Gauß die Angelegenheit mathematisch untersuchte und beschrieb, wurde der Begriff der Normalität mit der Häufigkeit assoziiert: als normal wird empfunden, was am häufigsten vorkommt. Die Normal-Verteilung oder Gauß-Verteilung ist eine mathematische Beschreibung der Wahrscheinlichkeitsverteilung für eine bestimmte Eigenschaft oder für ein bestimmtes Ereignis. Die Funktion ihrer Wahrscheinlichkeitsdichte wird auch gaußsche Normalverteilung, gaußsche Glockenkurve oder schlicht Glockenkurve genannt.

In diesem Beispiel sieht man, dass es unter mitteleuropäischen Männern viele gibt, die zwischen 175 und 185 cm groß sind, und nur sehr wenige, die kleiner als 160 cm oder größer als 2 m sind. Eine solche Kurve kann man auch für die Länge des Oberschenkelknochens, für die Schuhnummer, für den Brustumfang oder für den Intelligenzquotienten erstellen.

In einer berühmten Zeichnung von Leonardo da Vinci, die um 1490 entstand, ist ein Mann mit ausgestreckten Extremitäten in zwei überlagerten Positionen dargestellt. Mit den Fingerspitzen und den Sohlen berührt die Figur ein sie umgebendes Quadrat beziehungsweise einen Kreis. Bis heute nicht nur ein Symbol für die Ästhetik der Renaissance.

In dieser Skizze stellt Leonardo den idealen Menschen dar, der die häufigste Körpergröße, die häufigste Länge des Oberschenkelknochens, des Schienbeins, des Wadenbeins, der Elle und der Speiche, des Schlüsselbeins, der Hände und Füße aufweist, die normalste Position des Nabels und des Penis, des Kinns und der Nase hat. Nun ist dies vielleicht ein idealer oder eher ein idealisierter, aber mit Bestimmtheit nicht der normalste und häufigste Mensch! Im Gegenteil! Abgesehen davon, dass die meisten Menschen gar keinen Penis haben, weil sie Frauen sind, wird es selten oder gar nie vorkommen, dass ein Mensch hinsichtlich aller Kriterien im mittleren Bereich der gaußschen Glockenkurve zu finden wäre. Mit anderen Worten: Während es völlig normal ist, hinsichtlich eines bestimmten Merkmals normal zu sein, ist es alles andere als normal, völlig normal zu sein!

Die Begriffe ‹Norm› und ‹Mehrheit› sind in Bedeutung und Tragweite eng miteinander verknüpft.  

Mit Mehrheit wird der ‹numerisch überwiegende Teil› der Stimmberechtigten in einer Gesellschaft bezeichnet, dem in einem demokratischen Prozess eine Angelegenheit oder eine Entscheidungsfindung überantwortet ist. In der Demokratie ist sie von grundlegender Bedeutung bei Entscheidungen in Form von Wahlen und Abstimmungen, ebenso im Gesellschaftsrecht, im Aktienrecht und im Vereinsrecht. Wichtig ist, an dieser Stelle zu unterstreichen, dass die ziemlich verbreitete und reduzierende Auffassung ‹In einer Demokratie richtet man sich nach den Wünschen der Mehrheit› unzulässig und verheerend ist! Vielmehr gilt (oder sollte gelten): ‹In einer Demokratie sind die Bedürfnisse und Anliegen aller Minderheiten sowie deren Schutz und Garantie dem Walten, der Verantwortung und erst dann der Entscheidung durch die Mehrheit übertragen›, denn sonst unterjocht in diktatorischer und undemokratischer Weise die Mehrheit alle Minderheiten, die ja, wie wir bereits geklärt haben, die Mehrheit der Bevölkerung ist.

Warum bilden die Minderheiten die Mehrheit? — Jedes Individuum in einer beliebigen Gruppe von Menschen vertritt mit einem Wesenszug eine Minderheit, ist entweder linkshändig oder rothaarig, hat das absolute Musikgehör oder einen Tinnitus, ist hellsichtig oder farbenblind, ist am 29. Februar geboren oder hat eine Zwillingsschwester oder einen Zwillingsbruder, kann sich Gesichter weder merken noch sie überhaupt erkennen oder kann selbst alte Telefonnummern nicht vergessen, ist frühreif oder zündet spät, hat eine seltene Allergie oder ein noch selteneres Talent, hat Migrationshintergrund oder glaubt, seit Jahrhunderten an einem bestimmten Ort verwurzelt zu sein… — Es gibt niemanden — nicht eine einzige Bürgerin, nicht einen einzigen Bürger! —, die oder der nicht einer Minderheit oder sogar mehreren Minderheiten angehört! Es gibt nichts Gewöhnlicheres, als anders zu sein. Unsere Einzigartigkeit ist schlicht banal. — Es ist zwar nicht apodiktisch auszuschließen, dass es auch Menschen geben könnte, die in jeder Hinsicht und nach jedem Kriterium im mittleren Bereich der Gauß-Verteilung einzutragen wären, doch diese Wenigen würden ihrerseits eine sehr kleine Minderheit bilden: die äußerst rare Spezies der völlig Normalen!

Nun gibt es freilich Kriterien, die für demokratische Entscheidungen zugegebenermaßen unwichtig sind. Von Geburt an, durch einen Unfall oder durch eine chronische Krankheit an einen Rollstuhl gebunden zu sein, ist für das Leben, für die Bedürfnisse und die Not der Betroffenen sehr wohl einschneidend; am 29. Februar geboren zu sein, indessen nicht. — Doch wer oder was trifft die Entscheidung darüber, welche Kriterien wichtig und welche unwichtig sind, oder auch bloß in welchem Maß sie wichtig oder unwichtig sind? Der sogenannt gesunde, also normale Menschenverstand?

Die Wichtigkeit verschiedener Eigentümlichkeiten hängt zudem von Umständen und Situationen ab. Geht es in einer Debatte darum, öffentliche Gebäude mit adäquaten baulichen Maßnahmen zu versehen, ist es selbstverständlich wichtig, der Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer Rechnung zu tragen, geht es hingegen darum, in der Schule Englisch statt Französisch als Zweitsprache einzuführen, ist dieses Kriterium bedeutungslos.

Können für gewisse Entscheidungen in bestimmten Situationen beispielsweise Kriterien wie Blutgruppe oder Pigmentierung der Haut von Bedeutung sein? — Nehmen wir an, eine Lehrerin fährt mit ihrer Schulklasse ans Meer. Bevor sie die Kinder zum Strand begleitet, kremt sie ihre Haut mit Sonnenschutz ein. Da erst wird ihr bewusst, dass die hübsche, zierliche, lebensfrohe, äußerst liebenswerte und von allen geliebte Chiara mit ihrer seidenzarten milchweißen Haut mit keinem noch so hohen Sonnenschutzfaktor vor einem sehr schmerzhaften und gesundheitsgefährdenden Sonnenbrand zu verschonen wäre. Vernünftigerweise beschließt die Lehrerin, Chiara am Strand unliebsame Einschränkungen aufzuerlegen, die für die Mitschülerinnen und Mitschüler nicht gelten: Das hellhäutige Mädchen darf ihr luftiges weißes Kleidchen nicht ausziehen, darf den Strohhut mit breiter Krempe nicht ablegen, muss sich immerzu in der Nähe der Lehrerin unter dem Sonnenschirm oder dem Schilfdach der Strandbar aufhalten. Dass sich die Lehrerin rührend bemüht, Chiara mit spannenden Geschichten zu unterhalten und ihr mit einem besonders großen Pistazien-Stracciatella-Eis das nicht ideale Stranderlebnis zu versüßen, kann das Mädchen nicht gänzlich über die Erfahrung hinwegtrösten, dass in gewissen Situationen eine helle Haut zu argen Benachteiligungen führen kann. Chiara und die Lehrerin sind aber so klug, dass sie im Gespräch klarstellen können, dass die Pigmentierung der Haut ein Kriterium ist, wenn es um die Exposition an UV-Strahlen geht, nicht jedoch, wenn es darum geht, Weißhäutigen die Benützung von öffentlichen Toiletten, öffentlichen Verkehrsmitteln oder Parkbänken zu gewähren, ihnen den Zutritt an Bildungsinstitutionen, Kliniken, Sport- oder Freizeiteinrichtungen zu ermöglichen, aktive und passive politische Rechte einzuräumen. — Im selben Urlaub kommt es zu einem Unfall, in dem sich Chiaras sportlicher, dunkelhäutiger und manchmal etwas übermütiger Banknachbar Bruno schwer verletzt. Keine Sorge: Bruno wird sofort und äußerst kompetent medizinisch versorgt und trägt keinen bleibenden Schaden davon. Er ist in besten Händen. Eine Ärztin, die genauso klug, tüchtig und weise ist wie seine Lehrerin, nimmt sich seiner an. Bruno braucht eine Bluttransfusion! Während im Fall von Chiara die Hautfarbe von eminenter Bedeutung war und die Blutgruppe nicht die geringste Rolle spielte, verhält es sich im Fall von Bruno genau umgekehrt: Seine dunkle Hautfärbung interessiert jetzt niemanden und hat niemanden zu interessieren! Dass seine Blutgruppe AB Rhesus-negativ ist, ist hingegen für die Entscheidung, welche die Ärztin trifft und die schließlich sein Überleben garantiert, absolut determinierend!

Dass es wichtige, weniger wichtige und völlig unwichtige Kriterien gibt, die für demokratische Entscheidungen berücksichtig oder eben nicht berücksichtigt werden müssen, kann ebenso wenig wegdiskutiert werden wie die erschwerende Tatsache, dass es nicht leicht ist, diese Kriterien und deren Wichtigkeit zu bestimmen. Allerdings kann auch nicht wegdiskutiert werden, dass es undemokratisch ist, wenn die Macht, über die Wichtigkeit von Kriterien zu entscheiden, allein von jenen verliehen wird, die diese Macht bereits besitzen.

Deshalb ist es unumgänglich, immer und immer wieder den fundamentalen Grundsatz in Erinnerung zu rufen und zu untermauern: In einer Demokratie sind die Bedürfnisse und Anliegen aller Minderheiten sowie deren Schutz und Garantie dem Walten, der Verantwortung und erst dann der Entscheidung durch die Mehrheit zu übertragen, die sich stets darüber bewusst sein muss, dass sie eine vorübergehende, privilegierte, mit Macht ausgestattete Minderheit ist.

Kommentare 2

  1. Dieser Text ist dermassen durchdacht, überzeugend und einleuchtend, dass er eigentlich Pflichtlektüre an unseren Schulen sein müsste.

    1. Post
      Author

      Dein Lob und deine ermutigenden Worte bedeuten mir sehr viel, Sabina. Ich hoffe, dass du dies weißt. Dafür danke ich dir von Herzen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert